Wolfgang Gust

Veröffentlichungen: Deutsche Parlamentarier vom eigenen AA hinters Licht geführt



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Subject: Das deutsche Auswärtige Amt beugt sich türkischem Druck und verhindert die Diskussion über eine Resolution des Bundestags


Nun ist es also amtlich: Die türkische Regierung bestimmt, womit sich das oberste legislative Organ der Bundesrepublik Deutschland – der Bundestag – in einer wichtigen Frage befassen darf und womit nicht. Nicht ihrem eigenen Gewissen, wie es unsere Verfassung verlangt, sollen sich die Abgeordneten verpflichtet fühlen, sondern sehr partikulären – und noch dazu nationalistischen – Zielen türkischer Politik.

Der Zentralrat der Armenier und andere Organisationen hatten in einer Eingabe an den Bundestag die Abgeordneten aufgefordert, den von Türken unter deutscher Mithilfe begangenen Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg anzuerkennen, dem eine Million Armenier zum Opfer fielen. Tausende deutsche und türkischer Bürger, darunter viele Professoren, hatten diese Eingabe unterstützt. Das deutsche Auswärtige Amt wurde vom zuständigen Petitionsausschuß um eine Stellungnahme gebeten. Die Antwort kann nur als eine Irreführung der Volksvertreter interpretiert werden. „Die türkische Seite habe auf inoffizielle Kontakte auf Ebene der Nichtregierungsorganisationen hingewiesen“, ließ das AA als einzige Begründung den Parlamentariern mitteilen, „wodurch erste Ansätze zur Aufarbeitung der türkisch-armenischen Vergangenheit unternommen würden. Zudem habe die türkische Seite ihrer Bitte um große Umsicht bei der Behandlung des Problems Ausdruck verliehen“. Der Bundestagsausschuß begnügt sich mit dieser Einschätzung, das Parlament legte den Antrag ad acta.

So klar hatte noch nie eine nichttürkische Regierung die direkte Einflußnahme Ankaras auf ihre eigenen Entscheidungen dokumentiert. Und so naiv wie das deutsche war noch nie ein Außenministerium auf den Bluff der türkischen Regierung hereingefallen. Denn bei der sogenannten Nichtregierungsorganisation handelt es sich um eine am 10. Juli 2001 auf Druck amerikanischer Türkei-Freunde in Genf gegründete Türkisch-Armenische Versöhnungs-Kommission. Zum Ziel hat sie jedoch das genaue Gegenteil dessen, was das AA vorgibt. Denn alle türkischen Mitglieder der Kommission lehnen eine historische Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern ab, und das mit allen Mitteln. In Deutschland würden sie sich, wenn sie so mit dem Holocaust verfahren wären, vor Gericht verantworten müssen. In der Türkei bekleiden sie höchste Ämter.

Eines der türkischen Mitglieder, Gündüz Aktan, bezeichnet den Kampf gegen die „armenische Lüge“, wie er die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nennt, als „Krieg“. In vielen Artikeln legte er dar, wie dieser „Krieg“ zu führen und zu gewinnen sei. „Das Hauptziel besteht darin“, so der angebliche Versöhner, „dafür zu sorgen, daß das Völkermord-Problem nicht dauernd ein Thema in den westlichen Länder ist.“ Ozdem Sanberg, früherer türkischer Botschafter in Großbritannien, sagte in der Pressekonferenz zur Einsetzung der Kommission über ihr Ziel: „Ihre Aufgabe ist nicht, die Wahrheit zu ergründen.“ Der frühere türkische Außenminister Ilter Türkmen äußerte zum gleichen Thema: „Die Aufgabe der Kommission ist nicht, zu einem historischen Urteil zu kommen. Mit fortlaufendem Dialog hoffen wir die Probleme zu überwinden, was aber nicht heißt, daß wir uns ein genaues Bild davon machen wollen, was vor 85 Jahren passierte.“

Schwer vorstellbar, daß das deutsche Auswärtige Amt das nicht weiß. So bleibt nur eine andere Interpretation: Nun halten sie wieder zusammen, die Türken, einst Täter des ersten Völkermords im an Völkermorden so reichen 20. Jahrhundert und ihre deutschen Freunde, einst Komplizen – gut 85 Jahre nach jenem gemeinsamen Genozid, der ein unheimlicher Vorläufer des Holocausts an den Juden war. Die Creme der Creme der internationalen Genozid-Forscher – allen voran jüdisch-amerikanische und israelische – hatten im Frühjahr dieses Jahres in einer großen Anzeigen in der New York Times die Parlamente der westlichen Demokratien aufgefordert, diesen Völkermord an den Armeniern endlich anzuerkennen. Schweden und Frankreich folgten diesem Appell, die deutschen Parlamentarier lehnten nun, vom eigenen Außenministerium hinters Licht geführt, selbst eine Diskussion über das Megaverbrechen ab.

Dabei hätten sie allen Grund gehabt, über diesen Völkermord zu sprechen. Denn die Deutschen waren im Ersten Weltkrieg die wichtigsten Verbündeten der Türken, nachdem sie das damalige Osmanische Reich mehr oder weniger in den Krieg hineingezogen hatten. Deutsche Offiziere waren enger mit der türkischen Armee verbunden als sie es heute mit der Nato sind. Vermutlich war der Völkermord an den Armeniern ein genuines Projekt der erst Jahre zuvor an die Macht gekommenen Jungtürken. Aber deutsche Offiziere spielten eine verheerende Rolle bei diesem Genozid.

Der deutsche General Colmar von der Goltz, seit vielen Jahren in der Türkei als Ausbilder und Berater des Sultans tätig und dort als „Goltz-Pascha“ beliebt und bekannt, hatte den Deportationsbefehl der Türken abgesegnet, obgleich er die Verhältnisse im Land bestens kannte und wissen mußte, daß Deportationen in die Wüsten Mesopotamiens für die berggewohnten Armenier den sicheren Tod bedeuteten. Der deutsche Major Boettrich unterzeichnete höchstpersönlich Deportationsbefehle, obgleich es wußte, daß armenische Männer in der Regel sofort erschossen wurden, Frauen und Kinder auf den Zwangsmärschen umkamen. Selbst die deutschen militärischen Hardliner warfen ihm nach dem Krieg diese Befehls-Unterzeichnungen als Leichtfertigkeit vor. Der deutsche Artillerie-Offizier Eberhardt Graf Wolffskeel von Reichenberg beschoß im Landesinnern und weit ab von der Front armenische Wohnviertel, in denen Zivilisten sich verbarrikadiert hatten, um nicht deportiert und getötet zu werden.

Deutsche Missionare und Schwestern der verschiedenen Hilfswerke vor Ort sowie die Konsuln in den östlichen Gebieten der Türkei – den wichtigsten Siedlungsräumen der Armenier – berichteten über die Greuel des Völkermords ausführlich dem deutschen Auswärtigen Amt in Berlin. Ein deutscher Botschafter – aber auch nur einer - plädierte leidenschaftlich dafür, für die Armenier einzutreten, doch die politische Spitze des Kaiserreichs hatte gegen die Armenier entschieden. Sie ließ das älteste Christenvolk der Welt, das in diesen Tagen sein 1700jähriges Jubiläum feiert, auf zum Teil grausame Weise hinmorden – Kinder mußten in Diarbekir um ihre brennenden Mütter tanzen, armenische Bischöfe wurden mit Hufeisen beschlagen -, obwohl ein deutscher General – ein einziger – bewiesen hatte, daß die Deportationen dauerhaft durch einen Befehl von ihm gestoppt werden konnten.

Das damalige deutsche Auswärtige Amt hatte nichts getan, um die Türken vom Morden abzuhalten. Mehr noch: Kanzler Bethmann Hollweg hatte nur eines im Sinn, die Türkei bis zum Kriegsende bei der Stange zu halten, „gleichgültig“, so seine bis heute kaum bekannte Einschränkung“, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“.

Um die durch die Berichte ihrer Missionare aufgeschreckten deutschen Christen zu beruhigen, hatte Bethmann Hollweg ihnen zeitgleich mit dem Todesurteil über die verfolgten Armenier versichert, alles nur Mögliche für die christlichen Brüder zu tun. Die uninformierten Reichstagsabgeordneten – eine strenge Zensur hatte alle Presse-Berichte verhindert -, fertigte der damalige Außenminister Arthur Zimmermann mit der Mär von verzweifelten deutschen Versuchen ab, die türkischen Bundesgenossen von ihrem Vorhaben abzuhalten. Tatsächlich hatten deutsche Botschafter Protestschreiben bei der türkischen Regierung abgeliefert, allerdings auf die interne Anordnung hin, entlastende Papiere für die Zeit nach dem Friedensschluß zu produzieren, und nicht etwa, um ein Ende des Mordens zu erreichen.

Diese Verschleierungspolitik setzte das deutsche Auswärtige Amt nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg fort und gewann den international renommierten Armenierfreund und Pastor Johannes Lepsius dafür, wichtige AA-Akten zum Völkermord herauszugeben, die 1919 denn auch als Buch erschienen. Es war Lepsius zu verdanken, daß er entgegen dem Wunsch des Auswärtigen Amts auch jene Akten publizierte, die die Faktizität des Völkermords eindeutig belegten. Im Gegenzug nahm Lepsius aber hin - oder merkte es nicht einmal-, daß das Auswärtige Amt viele der Dokumente manipulierte, indem alle Bezüge auf eine deutsche Mitschuld rigoros gestrichen oder umformuliert wurden. Der Propagandatrick gelang. Bis vor kurzem galten die Lepsius-Dokumente als authentisch. Kein deutscher Historiker fand den Völkermord an den Armeniern und die Rolle der deutschen Helfer ein Sachbuch wert, kein deutsches Schulbuch verzeichnet das grauenhafte Geschehen im damaligen Osmanischen Reich, kein deutscher Turkologe führte je seine Studenten an die Wirklichkeit dieses Völkermords heran.

Noch düsterer ist die Lage in der Türkei selbst, denn die türkische Regierung leugnet bis heute den Völkermord. Weil der Vater der modernen Türkei, Mustafa Kemal genannt Atatürk, sich für den Aufbau der Republik – und zur Abwehr westlicher bewaffneter Angriffe - auf die verbrecherischen Elemente der Jungtürken stützen mußte, wurde der Völkermord an den Armeniern sehr bald ein eisernes Tabu, das zu brechen für jeden Türken günstigstenfalls mit dem Verlust seiner Karriere verbunden ist. Kein Volk der Welt ist wohl über das verbrecherischste Kapitel seiner Geschichte so wenig informiert wie die Türken.

Nur ausgesuchte osmanische Dokumente, die keineswegs den Völkermord an den Armeniern belegen, sondern angeblich den von Armeniern an den Türken, wurden bislang von der offiziellen Türkei veröffentlicht. Solange die zweifellos wichtigsten Akten zum Völkermord noch in den Giftschränken der türkischen Archive lagern, sind die offiziellen deutschen die wertvollsten, denn die Deutschen konnten, anders als die neutralen Amerikaner und selbst die verbündeten Österreicher, alle Dokumente verschlüsselt übermitteln. Und zumindest deutsche Militärs hatten weitgehend Zutritt selbst zu den eigentlichen Vernichtungsstätten. Die bis heute unterdrückten Dokumente ziehen eine erschreckend genaue Bilanz des Genozids.

Alle von Lepsius oft verfälscht herausgegebenen Dokumente stehen nunmehr in ihrer bereinigten, originalen Form jedermann gratis im Internet (www.armenocide.de) in der wohl umfangreichsten Dokumentensammlung zum Völkermord zur Verfügung, die wichtigsten auch in englischer Übersetzung. Auch die in der Lepsius-Ausgabe veränderten Stellen sind kenntlich gemacht worden. Und ein längerer Artikel zeigt die Hintergründe der Fälschungen des damaligen Auswärtigen Amts auf. Für die deutschen Parlamentarier und das heutige Auswärtige Amt hatte ich schon vor zwei Jahren diese bereinigten Dokumente dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt.

Noch für viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die deutsche intellektuelle Elite den Nationalsozialismus und die Shoah zu einem großen Teil verdrängt. „Die Tradition der Aufklärung und der radikalen Moderne sind in ganzer Breite erst bis zum Ende der 50er Jahre rezipiert worden“, schrieb der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels Jürgen Habermas, „dann allerdings vorbehaltloser als je in der deutschen Geschichte“. Nicht 15, sondern 85 Jahre sind vergangen seit jenem Völkermord, dessen breite Rezeption möglicherweise den Holocaust verhindert hätte. Die neudeutsche Tradition der Aufklärung und der radikalen Moderne machen aber noch immer vor dem Völkermord an den Armeniern halt. Die „intellektuelle Westbindung“, die Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio ansprach, sei ein wichtiger Teil der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik gewesen, „ein großer Schritt aus dem Pfad des Sonderwegs“. Deutschlands Mitschuld am Völkermord an den Armeniern fand auf dem Gipfel dieses verhängnisvollen Sonderwegs statt, wie zahllose Zeugnisse in den diplomatischen Dokumenten jener Zeit belegen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß der schon als Philosoph der Bonner Republik abgestempelte große Mahner Jürgen Habermas auch die gewählten Vertreter der Berliner Republik an eine offenbar noch sehr ungefestigte Tradition erinnert.

Wenn Deutschland den Vereinigten Staaten und Großbritannien in einer historischen Stunde folgt, dann hat das einen aktuellen und einen historischen Grund. Der aktuelle ist die Bedrohung jener Freiheit, die wir besonders den Angelsachsen zu verdanken haben. Der historische ist, daß vor allem sie es waren, die uns vom Nationalsozialismus und seinem Terror befreit haben, wozu wir selbst nicht in der Lage waren.

Eine solche Dankesschuld besteht gegenüber der Türkei nicht. Deutschland ist seinen eigenen Bürgern, darunter 2,5 Millionen Türken, die teilweise auch schon Staatsangehörige der Bundesrepublik sind, Rechenschaft schuldig über ein in der deutschen und türkischen Geschichte praktisch unaufgeklärtes Megaverbrechen. Dies den deutschen und türkischen Historikern zu überlassen, wie einige Bundestagsabgeordnete meinen, ist schon deshalb nicht möglich, weil es keine deutschen und türkischen Historiker gibt, die dazu bereit und in der Lage sind. Nur ein deutliches Signal der gewählten Vertreter unseres Volkes könnte diesen katastrophalen Zustand ändern.

[ Erschienen in der „Armenisch Deutschen Korrespondenz“ Nr. 113, Jg 2001/Heft 3, S. 24]