Wolfgang Gust

Eigene Buchbesprechungen: Taner Akçam: A shame ful Act, The Armenian Genocide and the Question of Turkish responsibility. Metropolitan Books, New York 2006. 483 Seiten.



Publisher





Anmerkung des Autors der Buchbesprechung:

Taner Akçam, einer der türkischen Studentenführer Mitte der siebziger Jahre, später Mitarbeitet des Hamburger Instituts für Sozialforschung und heute Professor für Geschichte an der amerikanischen Universität von Minnesota ist einer der - noch - wenigen türkischen Autoren, die den Völkermord an den Armeniern auch als Genozid ansehen und ihn so nennen. Während fast alle türkischen Historiker den Armeniern und den Großmächten die alleinige Schuld oder zumindest die Hauptschuld am ersten Megaverbrechen des 20. Jahrhunderts geben, fast alle Wissenschaftler der übrigen Welt die jungtürkische Führung als die eindeutigen Täter ansehen, versucht Akçam aus der Sicht sowohl der Türken als auch der ausländischen Beobachter zu seinem Urteil zu kommen.

Taner Akçam zieht nicht nur die westliche, hauptsächlich englisch- und deutschsprachige Literatur heran, er hat auch jahrelang die einschlägigen türkischen Quellen - Dokumente, Memoiren, Tagebücher - studiert, insbesondere aber die umfangreichen osmanischen Materialien der Nachkriegsprozesse, in denen eine anfangs kooperationsbereite türkische Richterschaft die eigenen Verbrechen aufzuarbeiten versuchte. In den vergangenen Jahren hat Akçam in der Türkei viele osmanische Quellen studiert, die er erstmals in die englische Fassung seines Buches eingearbeitet hat.

In dieser Buchbesprechung stehen deshalb die Passagen im Vordergrund, in denen der Autor sich auf türkische bzw. osmanische Quellen stützt. Die Besprechung folgt weitestgehend dem Aufbau des Buches, ist also eher ein Auszug aus dem wichtigen Werk Taner Akçams, das dadurch auch dem deutschen Publikum in umfangreicherer Form zugänglich gemacht werden soll. Die Seitenzahl der wiedergegebenen Textpassagen des Buches ist am Ende eines Absatzes in eckigen Klammern angegeben.

Das amerikanische Zoryan-Institut bemüht sich seit Jahrzehnten, die Völkermordproblematik aufzuarbeiten, indem es Wissenschaftler mehrerer Nationalitäten bei ihren Arbeiten unterstützt. Auch die Englisch-Übersetzung dieses wichtigen Werks von Taner Akçam geschah mit Hilfe der in Toronto ansässigen Organisation, deren Leiter Greg Sarkissian nie vergessen hat, daß seine armenischen Vorfahren dereinst von Türken gerettet wurden, worauf Taner Akçam in seiner Widmung anspielt.

„Bugarien, Serbien, Griechenland, Irak, Syrien, all diese Gebilde, die sich auf dem Territorium des Osmanischen Reichs etabliert haben“, schreibt Taner Akçam in seiner Einführung, „gehen in ihrer Geschichte auf eine ganze Reihe von Vertreibungen und Massakers ein, die ihnen von ‚anderen’ zugefügt worden sind. Die türkische Historiographie macht das genau so. Sie erinnert sich an Massaker von Muslimen durch Armenier, Griechen, Bulgaren und anderen ethnischen Gruppen, erwähnt aber nicht die Leiden, die diesen nichtmuslimischen Gruppen von ihnen zugefügt worden sind. Diese Buch will mit dieser Tradition brechen.“ [1]

Taner Akçam zieht auch offizielle osmanische Quellen heran, obgleich viele von ihnen nach dem Waffenstillstand von 1918 zerstört worden seien. „Aber bei der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und den umfangreichen Berichten“, so Akçam, „ konnten diese Dokumente nur unvollständig gesäubert werden.“ Als Beispiel führt er eine Akte der Generaldirektion der staatlichen türkischen Archive – die systematisch nur die Türkei entlastende Dokumente veröffentlicht – an, das 1995 herausgegeben wurde. Am 12. Juli 1915 hatte darin der damalige Innenminister Talaat Pascha nach der Ermordung von mehr als 2000 Christen den Generalgouverneur der Provinz Diyarbakir aufgefordert: „Da es kategorisch verboten ist, andere Christen in die disziplinarischen und politischen Maßnahmen gegen die Armenier einzuschließen, sollte diese Art des Vorgehens sofort beendet werden, weil sie einen schlechten Eindruck in der Öffentlichkeit hervorrufen wird.“ Also gab Talaat selbst in einem von den Genozidleugner veröffentlichten Telegramm zu, daß gegen die Armenier „disziplinarischen und politischen Maßnahmen“ ergriffen werden sollten, ein Euphemismus für die Massentötungen. [6]

Akçam untersuchte neben den wenigen inzwischen veröffentlichten türkischen Akten hauptsächlich die deutschen, österreichischen, und amerikanischen Akten, um nur die Nationen zu nennen, die während des Völkermords Vertreter in der Türkei hatten und über aktuelle Berichte verfügen. „Nimmt man diese Quellen zusammen“, so Akçam, „bleibt kein Zweifel, daß die ganze Skala von Operationen unmöglich ohne zentrale Planung ablaufen konnten. Diese Quellen lassen uns darauf schließen, daß diese Entscheidungen mit großer Wahrscheinlichkeit vom Zentralkomitee der Partei „Einheit und Fortschritt“ gefällt worden sind.“ Die „armenische Frage“ sollte vom Zentralkomitee der Jungtürkenpartei, die sich Türkisch „Ittihad ve Terakki“, zumeist aber Französisch „Comité Union et Progrès“ nannte und deshalb üblicherweise als „CUP“ abgekürzt wird oder auch kurz „Union“ hieß - ein für allemal gelöst werden. [7]

In seinem offiziellen Schreiben vom 26. Mai 1915 an den Ministerpräsidenten sprach der später zum Großwesir ernannte Innenminister Talaat davon, daß „die notwendigen Vorbereitungen diskutiert und beschlossen worden sind, dieses Problem, das einen wichtigen Platz in der gehobenen Liste der wichtigen Staatsprobleme innehatte, komplett und grundsätzlich verschwinden zu lassen.“ Während die Armenier und assyrischen Christen durch spezielle Maßnahmen ausgerottet werden sollte, wurden die Griechen ausgewiesen. „Ein Drittel der anatolischen Bevölkerung wurde entweder vertrieben oder getötet“, schreibt Akçam, „wobei das Entscheidenden ist, daß diese ethischen Säuberungen und Homogenisierungen den Weg zur heutigen Türkischen Republik pflasterten. Eine Sicht, die für in der Türkei unakzeptabel ist“ [8/9]

Selbst ohne Quellenstudium sei die Problematik offensichtlich, so Akçam. Der offizielle Grund für die Deportationen sei gewesen, daß die Armenier eine Gefahr für die Armee darstellte, und deshalb vom Kriegsschauplatz entfernt werden müßten. Die Armenier wurden aber aus Gebieten weit von der Frontlinie entfernt direkt in Kriegszonen deportiert, also absolut gegen die Argumentationsrichtung, so in Gebiete direkt hinter der Sechsten Armee um die Stadt Der Zor oder im Rücken der Vierten Armee im Havran. [10]

Nachforschen können diese dunkle Vergangenheit nur noch Spezialisten. Denn per Parlamentsdekret wurde 1928 die osmanische Sprache und Schrift abgeschafft. „Mit einem Federstrich verlor das türkische Volk seine Verbindung zur geschriebenen Vergangenheit“, schreibt Akçam. Kein normaler Türke könne heute die Zeitungen, Briefe und Tagebücher aus der Zeit vor 1928 lesen. So verwundert es nicht, daß die türkische Regierung dieses Monopol heute erfolgreich dazu nutzt, nur seine Version von der Vergangenheit zu propagieren. [11]

Zwischen 1878 und dem Ersten Weltkrieg hat das Osmanische Reich 85 Prozent seines Territoriums und 75 Prozent seiner Bevölkerung verloren. „Die Armenier bilden ein Symbol dieser traumatischen Ära. Wenn die Türken sich selbst als den Phönix sehen, der aus der osmanischen Asche emporgestiegen ist, so stellen die Armenier die nicht willkommenen Spuren dieser Asche dar.“ [12]

Es gäbe zwei Versionen der türkischen Geschichte, schreibt Akçam. Nach der einen sei das Osmanische Reich von den europäischen Großmächten zerstört worden, was bis heute stark antiwestliche Gefühle besonders unter den regierenden türkischen Eliten hinterlassen habe. Zum andern gibt es die Geschichte der Verfolgung, Massaker und Vernichtung verschiedener religiöser und ethnischer Gruppen, besonders der Armenier. „Eines der zentralen Anliegen dieses Buches besteht darin“, schreibt Akçam, „daß diese sich gegenseitig ausschließenden Versionen miteinander ausgesöhnt und als Ganzes gesehen werden müssen: Ihre enge Verbundenheit ist ein unentwirrbarer Teil der gleichen Geschichte.“ [12]

„Wenn die Türkei ein wirklich demokratisches Mitglied der Nationengemeinschaft werden will“, so Akçam, „muß sie sich mit dem ‚dunklen Kapitel’ ihrer Geschichte, diesem ‚schändlichen Akt’, wie der Gründer der Republik, Mustafa Kemals Atatürk den Völkermord an den Armeniern nannte, auseinandersetzen.“ [12]

Teil I: Die armenische Frage vor der Entscheidung zum Völkermord

Kapitel 1: Der osmanische Staat und seine nichtmuslimische Bevölkerung

600 Jahre Dominanz der osmanischen Muslime gegenüber den Nicht-Muslimen – insbesondere den Christen – haben eine Mentalität geprägt, die schließlich den Völkermord erst möglich gemacht hat, so die Quintessens von Akçams historischem Rückblick auf die Jahrhunderte vor den Jungtürken. Die Christen wurden – wie auch die Juden - von den Muslimen toleriert, allerdings nur als Untertanen zweiter Klasse. Sie mußten sich anders und bescheidener kleiden, ihre Häuser durften nicht höher sein als die der Muslime und keines ihrer Fenster durfte Einblick in muslimische Viertel geben. Begegneten Christen einem Muslim, mußten sie ehrerbietig Platz machen und durften vor allem keine Waffen besitzen. „Das pluralistische Muslimische Modell“, so Akçam, „bestand auf beidem: Unterdrückung und Toleranz.“ Als die Christen dann im 19. Jahrhundert eine Gleichstellung anstrebten, „wurde das als Verletzung dieser Übereinkunft angesehen“. [24/25; 32]

Die Christen stellten sich daraufhin immer mehr auf die Seite der Großmächte, die das Osmanische Reich in die Enge trieben. Sie hatten sich schon früh Vorteile verschafft, so die „Kapitulationen“ genannten Privilegien, nach der ihre Vertreter nicht der osmanischen Gerichtsbarkeit unterstanden, sondern der ihrer eigenen Staaten. Ursprünglich von den Sultanen eingeräumt, um den Handel zu fördern, wucherte dieses System immer mehr aus, zumal die Großmächte die Privilegien auch auf ihre einheimischen – zumeist christlichen - Mitarbeiter ausdehnten.

Die Versuche der Osmanen, im 19. Jahrhundert mit staatlichen Reformen eine Gleichstellung von Muslimen mit Nicht-Muslimen zu garantieren, scheiterten, weil sie zum einen von der Verwaltung und Regierung nur halbherzig betrieben, zum anderen von den muslimischen Untertanen nicht akzeptiert wurden. „Diese Reformen sollten zu besseren Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen führen“, schreibt Akçam, „bewirkten aber das Gegenteil.“ Und: „Der Verlust ihrer angestammten Überlegenheit erschütterte das Vertrauen der Muslime und hatte den Verlust ihrer Toleranz zur Folge.“ [35]

Mitgewirkt an den Reformen hatten auch die Patriarchen der osmanischen Christen, die zwar einerseits Gleichheit anstrebten, andererseits aber nicht auf ihre früheren Privilegien verzichten wollten, so beispielsweise auf die Möglichkeit, sich vom fünfjährigen Militärdienst freizukaufen. Das jahrhundertelang herrschende Milletsystem, das den Religionsgemeinschaften eine wenn auch begrenzte Selbstständigkeit gewährte, wollten selbst die Religionsführer erhalten, was mit dem im Westen immer mehr akzeptiertem Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution nicht zu vereinbaren war. [33]

So forderte der armenische Patriarch in Istanbul und mit ihm der Goße Nationalrat der Armenier den russischen Zaren nach dem russisch-osmanischen Krieg von1877/78 auf, die besetzten und mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiete im Osten Anatoliens nicht an die Türkei zurückzugeben und den Armeniern die gleichen Rechte zu gewähren wie den Bulgaren. Russische Soldaten sollten solange im Land bleiben, bis Reformen durchgeführt worden seien, die auch eine Festansiedlung der nomadischen Kurden- und Tscherkessen-Stämme einschlösse. Auf dem Berliner Kongreß 1878 wurde auf Druck der Briten der Einfluß der Russen dann begrenzt und in eine Formel gegossen, die die Oberhoheit der Osmanen garantierte. Die Reformen fanden nicht statt, weil die Osmanen erfolgreich ihre Durchführung verhinderten. [36-39]

Nachdem sich auf dem Balkan immer mehr Christen vom Osmanischen Reich lösten, fand unter dem Sultan Abdul Hamid II ein entscheidender Wechsel in der Politik gegenüber den Armeniern statt. „Die christlichen Gemeinschaften des Balkans sah das Reich unter Abdul Hamid II als verloren an“, schreibt Akçam, „und richtete seine Anstrengungen darauf aus, seine muslimischen Untertanen eng an den Thron zu binden.“ Bewerkstelligen sollten das im November 1890 aufgestellte Regimenter von Kurden, die der Türkei ergeben waren und in den Grenzregionen zu Rußland siedelten. Vorgeblich sollten sie die russische Grenze sichern, „nach türkischen Quellen aber“, so Akçam, „waren ihre wirkliche Ziele die Armenier.“ [40]

Das zeigte sich Mitte der neunziger Jahre, als armenische Bauern des kilikischen Dorfes Sasun sich weigerten, sowohl dem Staat als auch ihren kurdischen Herren Steuern zu zahlen. Obgleich die Gerichte den Bauern Recht gaben, hetzte der Provinzgouverneur die Muslime gegen die Armenier auf. „Die armenische Bauernrevolte wurde unterdrückt“, schreibt Akçam, „Raub und Mord gingen weiter.“ Angestachelt durch die Propaganda einer armenischen revolutionären Partei, den Hintschaken, rebellierten die Bauern nun offen. Die Regierung schickte Truppen gegen die armenischen Bauern, „die sich nach türkischen Quellen brutal verhielten und eine Anzahl von ihnen abschlachtete“, so Akçam. [41]

Großbritannien, Rußland und Frankreich formulierten nach den Richtlinien des armenischen Patriarchats einen Reformplan und erzwangen seine Annahme. „Dieses Geschäft wird in Blut enden“, soll der Sultan gesagt haben. „Obgleich es keine Beweise dafür gibt, daß der Sultan die Massaker angeordnet hat“, schreibt Akçam, „ist das Timing suspekt, denn die Ereignisse passierten sogleich nach der Verkündigung der Reformen.“ Zwischen 80000 und 300000 Armenier, je nach Quelle, starben. Erneut versprach der Sultan wirkliche Reformen, erneut passiert nichts – hauptsächlich wegen der Inaktivität der europäischen Großmächte, die jeweils unterschiedlichen Interessen vertraten. „Während der 1890ger Jahre machte sie den osmanischen Herrschern klar“, schreibt Akçam, „daß sie nichts ausschließlich zum Vorteil der Armenier unternehmen würden. Durch Europas heuchlerische Politik blieb das armenische Problem ungelöst.“ [42/43]

Nach 1890 versuchte das Osmanische Reich seine Einheit auf pan-islamischer Grundlage zu stellen und damit andere religiöse Gruppen auszuschließen. Die Armenier wurden immer mehr als verlängerter Arm externer Feinde angesehen und die „armenische Frage“ als Frage des nationalen Überlebens ausgegeben. „Die Armenier“, so Akçam“ wurden zu Sündenböcken gestempelt.“ [43/44]

Der Staat griff die Armenier aufgrund geringster Provokationen an, Attacken, die immer mehr den Charakter von Pogromen bekamen. Nach den Berichten verschiedener diplomatischer Missionen, so Akçam, „war klar, daß die Massaker von 1894 bis 96 zentral geplant wurden.“ Der österreichische Botschafter sprach sogar von „muslimischen Kreuzzügen“. „Der Glaube, daß die Muslime mit der Tötung der Armenier eine religiöse Pflicht erfüllten“, schreibt Akçam, „war vielleicht kein Motiv auf der Ebene der Entscheidungsträger, aber ein entscheidender Faktor für jene, die sich [auch] am Genozid von 1915 beteiligten und das hatte Nachwirkungen.“ Der ungarische Orientalist Armenius Vambery, häufiger und beliebter Gast beim Sultan, berichtete, daß für den Architekten der Armenien-Politik unter Abdul Hamid II, Izzet Pascha, die Beseitigung des armenischen Problems in der Beseitigung der Armenier bestünde. [44-46]

Kapitel 2: Die Ära von Einheit und Fortschritt

Bis 1915, schreibt Akçam, waren die Massaker an den Armeniern lokaler Natur, auch wenn sie von der Zentrale geleitet wurden. Durch sie sollten die Armenier unterworfen werden. Was hingegen zwischen 1915 und 1917 geschah, war, wie Talaat in seinem Brief vom 26. Mai 1915 an den Großwesir schrieb, „eine vollständige und grundlegende Auslöschung dieser Angelegenheit“. In seinem Kapitel über die Ära der Jungtürkenpartei „Einheit und Fortschritt“ untersucht Akçam, wie die Jungtürken zu dieser radikalen Lösung kamen, die seiner Meinung nach keineswegs zwangsläufig waren – es hätte auch andere Lösungen geben können.

Unter den türkischen Muslimen herrschte die Meinung vor, sie seien die „Millet-i Hakime“ genannte herrschende Gemeinschaft. „die osmanisch-türkische herrschende Elite identifizierte sich mit dem Islam“, so Akçam, „und sah sich selbst den anderen religiösen Gruppen gegenüber als überlegen an.“ Diese Herrenmentalität übernahmen die Jungtürken. Akçam: „Sie sahen die Vorherrschaft der Türken im Osmanischen Reich als eine natürliche Angelegenheit an, die gar keiner Diskussion bedurfte.“ Selbst als die kosmopolitische Haltung des Osmanismus noch vorherrschte, „blieb die Idee einer muslimische Vorrangstellung eine Konstante.“ [48]

In der Tanzimat-Zeit, der Reformperiode des Osmanischen Reichs, war der Türkismus anfangs eine linguistische oder literarische Richtung, um das in arabischen Zeichen geschriebene osmanische Türkisch mit seinen hohen Anteilen an arabischen und persischen Worten zu vereinfachen. Ihre Pioniere sahen sich eher als Osmanisten oder Islamisten. Aber für alle - ob Osmanisten, Islamisten, Türkisten oder Westler – war die türkische Herrschaft unbestritten. „Die Bewegung Union und Fortschritt setzte die Tradition fort“, schreibt Akçam, „gab ihr aber ein neues Colorit.“ Ahmed Rıza, ein führender Vertreter der Richtung, verstand unter Osmanismus eindeutig die türkische Herrschaft, in der jeder Türke „stolz darauf sein kann, ein Türke zu sein.“ [49]

„Noch bevor der türkische Nationalismus als politische Ideologie ausgeformt war“, so Akçam, „sahen sich die Türken als beherrschende Schicht im osmanischen Staat. Dieses Verständnis als ‚herrschende Nation [Die verschiedenen Völkerschaften und Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich bezeichneten sich als „Nation“.] ’ würde eine entscheidende Rolle als politisches und kulturelles Fundament für den Völkermord an den Armeniern spielen.“ [50]

Lange versteckten sich die türkischen Nationalisten aus einem sehr einfachen Grund hinter dem Begriff des Osmanismus, denn der Ausdruck „Türke“ galt unter den Osmanen als abwertend. Deshalb hofften die osmanischen Führer sich unter dem Banner des Islams als Einheit zu präsentieren und erst als alle anderen Begriff sich als unfähig erwiesen hatten, entschlossen sie sich zum Namen „Türkismus“ - eine unerwünschte aber notwendige Option. [51]

Noch 1898 hatte Vambery geschrieben, er habe „in Istanbul niemals auch nur einen Türken gefunden, der sich für die Frage eines türkischen Nationalismus oder die türkische Sprache interessierte“. In den türkischen Schulen wurde praktisch nichts über die Geschichte der Türken gelehrt, dafür vieles über Frankreich und die anderen Großmächte. Wenn Geschichte auf dem Programm von Seminaren stand, war es die osmanisch-islamische Historie. [52]

„Eine wichtige Folge dieses Rückstands“, schreibt Akçam, „war der Einfuß von rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologe“ bei den Jungtürken. „Das deutsche Gesellschaftsmodell mit seiner Betonung auf Rasse, Blut und Kultur wurde vorherrschend.“ Ziya Gökalps argumentierte, daß die politischen Grenzen der Heimat der Türken „sich soweit ausdehnen, wie die türkische Sprache und Kultur“ reiche. Nach den Balkankriegen mit ihren großen Verlusten an Territorien und Muslimen verfolgten die Jungtürken dieses Konzept dann ganz offen. Für die Osmanen entstand daraus kein Problem, denn die Vorherrschaft über christliche Minderheiten war für sie seit eh und je eine Selbstverständlichkeit. So konnten die osmanischen Verantwortlichen ihre Ideologie wechseln, „wie die Kleidung, wenn die Situation es erfordert“, so Akçam. [53]

Den Staat zu retten wurde das Kernanliegen der Jungtürken, ob nun mit einer pan-islamischen oder pan-türkischen Ideologie, wichtig war einzig und allein, „daß die Führung in der Hand der Türken blieb“, so der türkische Historiker Feroz Ahmad. Der leitende Partei-Ideologe wurde Ziyan Gökalb, der einen mittleren Weg zwischen den verschiedenen Richtungen fand. „Seine islamisch-türkisch-westliche Synthese wurde die offizielle Version der Unionisten“, so Akçam, der Jungtürken also. [54]

Nachdem die Jungtürken vom Sultan 1908 die Ausrufung einer Konstitutionellen Monarchie erzwungen hatten, glaubten sie für einen Augenblick, so der später Kriegsminister Enver Pascha in einer Rede am 23. Juli 1908, den „kranken Mann geheilt zu haben“, jenen kranken Mann Türkei, wie der Westen sich angewöhnt hatte, ihn nach einem Zaren-Ausspruch zu nennen. Doch sehr bald kehrte die Panik zurück, als Österreich-Ungarn das mehrheitlich muslimische Bosnien-Herzegowina besetzte, Bulgarien seine Unabhängigkeit erklärte und Kreta sich Griechenland anschloß. „Mit dem Aufkommen des Balkan-Nationalismus, der Intervention Europas und dem zunehmenden sozialen Gefälle zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen“, so Akçam, „ging das islamische Überlegenheitsgefühl verloren.“ Die Jungtürken sahen im Kampf der osmanischen Christen für Gleichberechtigung die Ursache für den Zerfall der Türkei. „Die CUP stellte sich gegen die christlichen Forderungen nach Autonomie und Gleichstellung“, so Akçam, „weil sie damit Separatismus fürchteten.“ Ahmet Riza brachte es auf den Punkt: „In dieser prinzipiellen Frage gibt es keinen Kompromiß mit ihnen. Wir werden keine Autonomie zulassen, die so etwas wie die Aufteilung des Osmanischen Reichs bedeuten würde.“ [55/56]

„Die Feindschaft gegenüber den Christen, ihr Mißtrauen gegenüber den christlichen Minderheiten und die vorherrschende politische Kultur der Gewalt“, so Akçam, „führte die Gruppe dazu, den Völkermord an den Armeniern zu begehen.“ Denn die Jungtürken „neigten dazu, Gewalt und undemokratische Mittel anzuwenden“, so Akçam, „nicht nur gegen Nicht-Muslime, sondern gegen alle Kräfte, die sich ihnen in den Weg stellten.“ [56]

Als argumentatives Heilmittel sahen sie die Wissenschaft an, hauptsächlich die Naturwissenschaft. Ihre Beherrschung machte in ihren Augen den Westen stark und das Osmanische Reich schwach. Sie sahen sich als „Sozial-Mediziner“, so Akçam, die die Schwäche ihrer Gesellschaft mit der Wissenschaft heilen wollten - wenn nötig auch mit den Mitteln einer Geheimwissenschaft. Jeder Jungtürke mußte schwören, „weder die Geheimnisse des Komitees noch Namen ihrer Mitglieder zu verraten, sowie alle Entscheidungen des Komitees voll mitzutragen und auszuführen“ - selbst zum Tod mußte er bereit zu sein, wenn er versehentlich Verrat begangen hätte. Diese Verpflichtung samt Todesdrohung galt sogar gegenüber der eigenen Regierung - was folglich das Wissen der Regierung in Sachen Völkermord an den Armeniern extrem einschränkte, und damit auch den Wert ihrer von der Türkei bis heute veröffentlichten Dokumente. [57/58]

Akçam: „Die Organisation war gewillt jeden zu beseitigen, der sich ihren geheiligten Aufrufen entgegenstellte.“ Das war der Hintergrund „für die Einsetzung der Geheimorganisation der Fedayin, einer Gruppe von tapferen, aufopferungsbereiten und bedingungslos gehorsamen Mitgliedern, die Sonderaufgaben - in der Regel die Ermordung politischer Gegner - auf Befehl durchführten.“ Zwar war die Mitgliedschaft freiwillig, „wer aber einmal dazugehörte, für den gab es kein Zurück.“ Autonome Aktionen waren verboten, auszuführen waren nur diejenigen des Zentralkomitees. Akçam: „Viele Morde nach 1908 wurden mit großer Wahrscheinlichkeit direkt vom Zentralkomitee angeordnet.“ „Die gleichen Leute, die die ersten Gruppen der Fedayin bildeten“, schreibt Akçam, „formten später die notorische Spezialorganisation, die eine direkte Rolle bei der Durchführung des Völkermords an den Armeniern spielte.“ [58/59]

Nach außen hin hielten die CUP und die armenischen revolutionären Organisationen miteinander Kontakt. Doch selbst wenn sie gemeinsame Entscheidungen trafen, „ verbarg die Einheitsfassade das Postulat, eines Tages mit den Armeniern abzurechnen“, so Akçam. Tatsächlich hatte bereits die erste organisierte politische Aktion der Jungtürken nach einer Demonstration der armenischen Hintschaken-Organisation im September 1895 in einem Aufruf an ihre Landsleute bestanden, die „armenischen Unverschämtheiten“ zu stoppen. Zwar griffen die Jungtürken nach den Armenier-Massakern von 1896 den Sultan direkt an, sprachen von einer „großen Schande“ und davon, daß die „Verbrechen von offizieller Seite“ durchgeführt worden waren. Aber diese Allianz war „eine Verständigung auf der Basis von Haß und Feindschaft“, wie der russisch-armenische Forscher Y. A. Petrosyan sie nannte [59/61]

Die Hauptkritik der CUP an den armenischen Organisationen „galt ihrer Forderung nach Autonomie“, so Akçam. Das aber sei keine Revolution, so der türkische Historiker Yusuf Hikmet Bayur, sondern hieß, „sie führten Krieg gegen uns.“ Auf dem Pariser CUP-Kongreß von 1902 trat dieser Konflikt klar zutage. Auf der einen Seite stand der osmanische Prinz Sabahettin, der für ein dezentralisiertes Osmanisches Reich eintrat und im gleichen Jahr mit Hilfe der Stimmen der Griechen und Armenier die Wahl gewann, auf der anderen Seite standen die CUP-Nationalisten um Ahmet Riza, Dr. Nâzim und Bahaettin Şakir. Nach ihrer Ansicht würden die Armenier die Muslime zu Angriffen provozieren, um dann die europäischen Mächte zum Eingreifen zu zwingen. Diese Haltung, nach der die Armenier das Land teilen wollten, sollte sich später durchsetzen und bestimmt noch heute die türkische Historiographie.

In einem Brief schrieb Bahaettin Şakir schon 1906 diese Haltung fest: „ Wir können nicht den geringsten Verlust unserer Heimat gutheißen. Jeder, der das Land Stück für Stück oder Volk für Volk teilen will, ist unser Gegner und unser Feind.“ Die Muslime im Kaukasus forderte er im gleichen Jahr auf: „Es ist notwendig, die Armenier zu schwächen, die uns vor allem daran hindern, uns vom russischen Würgegriff zu befreien. Wir müssen ihren Reichtum vernichten, der ihre größte Stärke ist.“ [62/65]

Zwar erneuerten die Jungtürken auf dem zweiten gemeinsamen Kongreß mit den Armeniern 1907 die Allianz, doch besonders die örtliche CUP in Saloniki wartete nur auf eine Möglichkeit, die christlichen Minderheiten auszuschalten, wenn die Jungtürken erst einmal die Mehrheit im Parlament hätten. „Es war ganz klar“, so Akçam, „daß die Jungtürken niemals die Absicht hatten, Freiheiten zu garantieren, selbst nicht eine regionale Autonomie“. Sie hätten sich lediglich hinter dem Schild des Konstitutionalismus versteckt, um nach einem Sieg den Kampf gegen die Armenier aufzunehmen. Darin stimmten bis heute alle türkischen Historiker überein. [66]

Es bewahrheitete sich langsam, was ein hoher türkischer Funktionäre schon im Februar 1894 dem französischen Botschafter Paul Cambon angedeutet hatte: „Eine armenische Frage gibt es nicht, aber wir werden eine schaffen.“ Als der Sultan im Juli 1908 - zum Erstaunen vieler Jungtürken, die diesen eigentlich revolutionären Akt aus den Zeitungen erfuhren - die Verfassung wieder einsetze, „war für das Komitee Einheit und Freiheit der Weg zu politischer Macht offen“, wie Akçam schreibt, allerdings sollte es noch bis zum Januar 1913 dauern, bis die Jungtürke die alleinige Kontrolle des Reichs übernahmen. Zwar brachte die Allianz mit der armenischen Daschnakenpartei den Jungtürken die Mehrheit im Unterhaus, die sie allerdings keineswegs zur Durchführung der von den Armeniern erhofften Reformen nutzten, denn die Mehrheit der Jungtürken war konservativ und durchaus dem feudal-autoritären Sultanat und Kalifat gewogen. Viele sahen in Sultan Abdul Hamid II so etwas wie ihren Vater, dem halt einige Fehler unterlaufen waren, die sie nun reparieren wollten. [67/68]

Die Armenier versprachen, das verfassungsmäßige Regime zu beschützen. In vielen Reden sprachen sie die Hoffnung aus, so ein Autor, „daß Türken und Armenier wie Brüder zum Wohle ihres Landes zusammenarbeiten würden“. Doch die Hoffnung währte nicht lange. Am 31 März (dem 13 April nach dem westlichen Kalender) 1909 revoltierten einige Militäreinheiten in Istanbul gegen die neue Regierung, Studenten (Softas) der islamischen Seminare übernahmen die ideologische Führung, weshalb viele Historiker von einer Konterrevolution sprachen. Doch nach zehn Tagen hatten militärische Kräfte aus Saloniki die Revolte gebrochen, unterstützt von den armenischen Daschnaken, während viele Griechen in Istanbul die Religiösen unterstützen. [68]

Die Leidtragenden der Konterrevolution waren einmal mehr die Armenier. Es traf sie in der südosttürkischen Stadt Adana, wo die Armenier die wohlhabendste Klasse der Stadt darstellten, denn sie hatten die Landwirtschaft auf ein hohes technisches Niveau gebracht. Konservative lokale Muslime rächten sich an ihnen, weil die örtlichen armenischen Komitees mit den Jungtürken gemeinsame Sache gemacht hatten. 15000 bis 20000 Armenier wurden umgebracht. 124 Muslime wurden in den 18 Monaten danach hingerichtet, aber auch sieben Armenier, zumeist weil sie beschwichtigend auf die Muslime eingewirkt hatten. [69]

Aber nicht nur konservative Muslime sollen in die Massaker involviert gewesen sein, sondern auch aus Damaskus und Beirut herbeigeeilte Soldaten der Jungtürken. Türkische Offizier verrieten dem Direktor des Tarsus American College, sie hätten Befehle erhalten, „die Armenier zu töten“. Und der spätere Hauptverantwortliche für den Völkermord an den Armeniern, Dr. Nâzim, erklärte nach den Adana-Gemetzel: „Das Reich muß mit Waffengewalt türkifiziert werden.“ [70]

Trotzdem arbeiteten - bis 1914 - das Komitee für Einheit und Fortschritt und die armenische Daschnakenpartei weiterhin politisch zusammen, denn beide wollten einen modernen Staat aufbauen, der auf Bürgerrechte nicht verzichten konnte. So akzeptierten die Jungtürken 1909 einen armenischen Minister und unterstützten selbst armenische Revolutionäre in ihrem Kampf gegen den russischen Zaren. [70]

Das Hauptproblem war die große kulturelle und religiöse Vielfalt im Osmanischen Reich mit jahrhundertealten Traditionen und Tabus. Während die Anhänger des Osmanismus eine eher föderale Struktur befürworteten, die ethnische und religiöse Besonderheiten weiterhin tolerierten, erstrebten die Jungtürken eine osmanische Staatsbürgerschaft um die Werte der dominierenden nationalen Gruppe - der Türken also. Das bedeutete eine erzwungene Assimilierungen besonders der christlichen Minoritäten. Die waren nicht bereit, sich beispielsweise auf ein zentralisiertes Schulsystem zu einigen, das auch ein Aus ihrer hochwertigen eigenen Schulen bedeutet hätte. Aber auch Araber und Albaner weigerten sich, in den Grundschulen Türkisch zu sprechen. In Albanien kam es deshalb 1910 zu einer Revolte. Am 27. Juli 1910, zum zweiten Jahrestag ihrer Revolution, erklärte das Komitee für Einheit und Fortschritt den „Osmanismus“ für gescheitert. [74/75]

In einer Geheimsitzung des Komitees für Einheit und Fortschritt 1910 in Saloniki hielt der spätere Innenminister und Großwesir Talaat Bey eine Rede, in der er die Frage der Gleichheit der Bürger nur dann für gegeben hinstellte, „wenn wir unsere Aufgabe der Osmanisierung des Reichs erfolgreich erledigt haben“. „Für sie heißt ‚osmanisch’ natürlich ‚türkisch’“, kommentierte der britische Botschafter in Istanbul, Gerald Lowther, „und ihre gegenwärtige Politik der „Osmanisierung“ ist die des Zerstampfens des nicht-türkischen Elements in einem türkischen Mörser.“ Der französische Konsul in Saloniki berichtete, daß sich die Jungtürken für die christlichen Minderheiten in Mazedonien und die bulgarischen in der Stadt Edirne als Lösung entweder für „Deportationen“ oder „Massaker“ aussprachen. Es gab Vorschläge für einen erzwungene Transfer der christlichen Bevölkerungsteile ins Innere Anatoliens und die Ansiedlung von Muslimen an ihrer statt, und wenn das nicht möglich sein sollte, wurde vorgeschlagen, die Christen zu töten. [76]

Auf dem CUP-Kongress von 1911 ging es um die Frage, was unter Osmanismus genau zu verstehen war. „Viele Forscher betrachten diesen Kongreß als den Augenblick“, schreib Akçam, „an dem der Übergang vom Osmanismus zum Türkismus vollzogen wurde.“ Auch wurden erstmal pan-islamische Aktivitäten im Kaukasus und Zentral-Asien diskutiert. Die britischen Konsuln in den betreffenden Ländern berichteten vom Eintreffen der türkischen Agenten und ihren Tätigkeiten. [78]

Chefideologe Ziya Gökalp machte klar, daß die Führung der Jungtürken im Ernst nicht bereit waren, nationale und kulturelle Rechte an die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu vergeben. „Die Politik der Osmanisierung war nichts anderes als der Beginn des Türkifizierungsprozesses“, schrieb er in einem Artikel.“ Taner Akçam: „Dies war eine offenes Bekenntnis, daß Osmanismus nur eine Vertuschung für Türkifikation ist.“ Die Ideen der türkischen Nationalisten gewannen die Oberhand. [78/79]

Und noch etwas wurde immer klarer: Die CUP zeigte immer mehr ihren militärischen Charakter - mit undemokratischen Mitteln, nicht nur gegenüber den Nicht-Muslimen, sondern gegen jeden, der nicht ihre Meinung teilte. Die Jungtürken waren auf dem Weg zum Einparteiensystem, Andersdenkende wie Prinz Sabahettin wurden als Verräter am Türkentum hingestellt - und erst recht die westlichen Großmächte, die weiterhin mit einer Teilung des Osmanischen Reichs liebäugelten. Englands Ablehnung der zweiten verfassungsmäßigen Regimes lag die Furcht vor einem starken Osmanischen Reichs zugrunde, das großen Einfluß auf die Muslime in der Welt haben würde. Englands Außenminister Edward Grey schrieb an seinen Botschafter in Istanbul: „Wenn in der Türkei jetzt ein parlamentarisches Leben beginnt und die Dinge in Ordnung gebracht werden, dann wird die Forderung nach einem verfassungsmäßigen Regime auch in Ägypten laut werden und unsere Möglichkeiten dagegen anzugehen werden sich verringern.“ [80]

Österreich-Ungarn sandte Emissäre nach Anatolien um zu prüfen, ob sich die Besetzung dort lohne. Das Deutsche Reich war auf Kolonien in Anatolien aus - alles ummantelt als humanitäre Interventionen. So verbanden die Jungtürken die westlichen Begriffe wie Menschenrecht oder Demokratie immer mehr mit Imperialismus und Kolonialismus. „Am Ende waren es dann die christlichen Gemeinschaften“, schreibt Akçam, „denen am übelsten mitgespielt wurde, weil die ‚Einheit der Völker’ unter den Jungtürken gescheitert war.“ [81]

Kapitel 3: Der türkische Nationalismus

Bis zu den Balkankriegen blieb der Osmanismus so etwas wie die offizielle Doktrin der Jungtürken in der Innenpolitik, auch wenn er nationalistisch ausgelegt wurde. Pan-Türkismus stand im Vordergrund, wenn es um die Tataren in Rußland ging, Pan-Islamismus spielte eine wichtige Rolle im Verhältnis zu den Arabern, den Muslimen Nordafrikas und der übrigen Welt, aber auch im Verhältnis zu den Nicht-Muslimen in der Türkei. Doch alles wurde dem Ziel untergeordnet, das Reich zu erhalten. [84]

Die Ideologen des Pan-Türkismus spielten nie eine führende Rolle im inneren Kreis der jungtürkischen Organisation, die eher nach pragmatischen Aspekten die eine oder andere Richtung herauskehrte, was im Falle des Pan-Islamismus auf harsche Kritik bei den traditionellen Islamisten stieß.

Die Balkankriege brachten die Jungtürken endgültig auf den Weg des extremen Nationalismus, wobei die Radikalisierung keineswegs nur von den Balkanvölkern ausging. Türkische Nationalisten - allen voran Talaat - propagierten die Wiedereroberung der verlorenen Teile in Europa und erklärten die Donau zur natürlichen Westgrenze. Um so erschütterter waren die führenden Jungtürken, die fast alle aus Rumelien (der europäischen Türkei) und speziell aus Saloniki kamen, als eben dieser europäische Teil des Osmanischen Reichs fast ganz verlorenging.

Taner Akçam erinnert nicht nur an die vielen christlichen, sondern auch an die vielen muslimischen Opfer des Untergangs des Osmanischen Reichs in Europa - von der türkischen Historiographie der Gegenwart besonders hervorgekehrt, von der westlichen weitgehend verschwiegen -, um zumindest die Empörung mancher Jungtürken zu erklären. Schon nach 1840 waren viele Muslime nach Massakern aus Europa geflohen. In den Jahren 1855 bis 66 waren es in der Folge des Krimkriegs eine Million. Hunderttausende flohen aus Serbien und Kreta und nochmals Tausende nach dem russisch-osmanischen Krieg. Und nun gab es die Massaker an Muslimen in den verbliebenen Balkangebieten. Besonders an den Kriegsakademien nistete sich der Geist der Revanche für diese Verluste ein. [86]

„Die Ankunft der rumelischen Flüchtlinge nach Ende 1912“, schrieb der englische Historiker Arnold Toynbee, der das Land zu jener Zeit besuchte, „ schaffte eine beispiellose Gefühlsspannung in Anatolien und einen Wunsch nach Revanche.“ „Der letzte Punkt ist entscheidend für den folgenden Völkermord an den Armeniern“, schreibt Akçam, „denn es waren genau diese Leute, gerade selbst von Massakern davongekommen, die eine zentrale und direkte Rolle bei der Säuberung Anatoliens von nicht-muslimischen Elementen spielten. Die Dimension dieser Migration und ihre Ergebnisse werden klarer, wenn wir daran erinnern, daß zwischen 1878 und 1904 etwa 850000 Flüchtlinge allein in den vorherrschend von Armeniern bewohnten Gebieten angesiedelt wurden.“ [87]

Die Niederlage im Balkankrieg radikalisierte die Jungtürken noch mehr. „Vom Frühjahr 1913 an wurde der türkische Nationalismus die offiziellen Strömung“, schreibt der türkische Historiker Yusuf Hikmet Bayur. Auf dem Parteikongreß von 1913 beschlossen die Delegierten, künftig wirtschaftlichen Konzessionen an die Großmächte abzulehnen und alle Kapitulationen abzuschaffen. Der wirtschaftliche Aspekt von Nationalisierungen trat immer mehr in den Vordergrund.

Partei-Theoretiker Ziya Gökalp untersuchte in einem vertraulichen Papier insbesondere die Tanzimat-Reformen und ihre Auswirkungen. „In seinen Augen sei der größte Fehler der Reformer und ihrer Nachfolger gewesen“, schreibt Akçam, „der nicht-muslimischen Bevölkerung den Status von gleichberechtigten Bürgern zu geben.“ Gökalp: „Die christlichen Völker sahen das Recht Osmanen zu sein nicht als Geschenk oder Begünstigung an.“ Nötig sei ein Ende der „Illusion von Gleichheit zwischen Muslimen und Christen“. Dieses geheime Dokument ging an alle Führungskräfte der Jungtürken. [87/88]

Das Türkentum wurde von nun an die Basis der jungtürkischen Politik. „Die Türken sind die Herrenmenschen des deutschen Philosophen Nietzsche“, schrieb Gökalp, „aus dem Türkentum wird neues Leben entstehen.“ In einem anderen Artikel griff er die Meinung an: „Ich bin kein Türke, sondern ein Osmane“. Damit müsse Schluß sein. Die Türken sollten „die Waffe de Nationalismus gebrauchen.“ [88]

Ebenfalls nach dem Vorbild des deutschen Nationalismus sollte die Wirtschaft organisiert werden, nach dem der Staat an einen lebendigen Volkskörper gebunden sei. Kulturelle, ökonomische und politische Einheit könnten mit nationalem Bewußtsein entstehen. Eine nationale Wirtschaft setze die „Gründung von muslimisch-türkischen Innungen“ voraus und brauche eine ethnische Einheitlichkeit. Gökalp ersetzte den Glauben an Gott durch einen Glauben an die Nation“, schrieb der Historiker Uriel Heyd in seinem Werk über Gökalp, „und so wurde der Nationalismus eine Religion.“ Damit waren die ideologischen Voraussetzungen und auch die Legimitation - in den Augen der Täter - des Völkermords an den Armeniern vorgezeichnet. [88/89]

Nationalistische Vereine und Institutionen beherrschten bald die politische Szene, Türkisch wurde als offizielle Handelssprache etabliert. Selbst korrupte und höchst profitable illegale Gesellschaften wurden gedeckt, wenn sie dazu beitrugen, eine muslimisch-türkische Bourgeoise zu schaffen. „Des wirtschaftliche Vorteils wegen“, so Finanzminister Cavit Bey, „durfte diese Illegalität negiert werden.“ [91]

Die Anwendung von Gewalt, wie die Requisition und Aneignung christlichen Eigentum, war einer der wichtigsten Aspekte der im Frühjahr 1914 eingeführten Wirtschaftspolitik“, schreibt Akçam und erinnert daran, daß in den Nachkriegsprozessen herauskam, daß die von den jungtürkischen gegründeten und protegierten Wirtschaftsvereinigungen jene Spezialorganisation finanzierten, die den Genozid durchführten. [91]

„Damit die Türkei mit ihren territorialen Besitzungen überlebt“, so Talaat, müsse es von „den Fremdvölkern befreit“ werden. Es sei Talaat gewesen, so der Parlamentspräsident und Außenminister Halil Menteşe [Um ihn von Envers Onkel Halil zu unterscheiden, bekam er den Zusatz „Menteşe“, weil er CUP-Abgeordneter von Menteşe war. Envers Onkel wird allgemein als Halil Kut bezeichnet, weil er die Briten bei der Belagerung der Stadt Kut zur Aufgabe gezwungen hatte.] , der vorgeschlagen habe, das Land von „verräterischen Elementen zu säubern.“ Diese Nicht-Muslime bezeichnete ein anderer Hauptverantwortlicher des Völkermord, Kuşçubaşı Eşref, als „interne Krebsgeschwüre“, die „entfernt“ werden müßten. [92]

Die Jungtürken entwickelten einen dreiteiligen Plan, die Türkei auf ihre nationalistische Linie zu trimmen, schreibt Akçam. Der erste Schritt bestand darin, alle Türken bloßzustellen, die sich nicht für die Idee des reinen Türkentums einsetzten. Im nächsten Schritt erweiterten sie das Reich um jene, die, wie die türkischen Muslime des Kaukasus und Zentralasiens, eine neue politische Einheit darstellen sollten. Die Frage, was ist des Türken Heimat, wurde neu gestellt. Beantwortet hatte sie Ziya Gökalb bereits 1911: Turan. Dort würden alle Türken zusammengeführt und alle Fremden abgewiesen.“ Turan sei „die Entität aller Länder, in denen Türken leben und Türkisch gesprochen werde.“ Ihr größter Protagonist war der spätere Kriegsminister Enver Pascha, der besessen von der Idee war, daß er sich selbst „als Herrscher eines wieder erstandenen Osmanischen Reichs ansah, eines Reiches, das, nachdem es die Türken und asiatischen Muslime vereint und die in Europa verloren Länder wiedererobert hätte, sich von der Adria bis zu den Gestaden Indiens ausdehnte“, wie Arif Cemil schriebt, ein CUP-Sekretär, der für die Spezialorganisation im östlichen Anatolien arbeitete. Turan wurde als eines der wichtigsten Kriegsziele erklärt. [93]

Um die zu erreichen, wurde drittens die „Spezialorganisation“ gegründet. Da deren Dokumente vernichtet worden sind, ist vieles über sie unklar. Verschiedene Quellen datieren ihre Gründung auf den Zeitraum von 1911 bis 1914, Dr. Nâzim und Bahaettin Şakir vertrate in ihr das Zentralkomitee, Gemeindienstchef Aziz Bey war Vertreter des Innenministeriums. Unklar ist auch, ob es eine oder zwei Spezialorganisationen gab, eine aber war mit Sicherheit für die Durchführung des Völkermords an den Armeniern zuständig, die wohl von Bahaettin Şakir geleitet wurde. Vermutlich war die Organisation von der CUP gegründet und dann im Kriegsministerium angesiedelt. Aber während des ganzen Völkermords waren die Beziehungen zwischen der Spezialorgansiation und der CUP-Zentrale wie auch den örtlichen Komitees äußerst eng. [95/96]

Im Ausland verfolgte die Organisation sowohl pan-islamische wie pan-türkische Ziele und gründeten dort revolutionäre Zellen. Im Inland kämpfte sie gegen jene, die die Jungtürken als „inner Feinde“ aufgemacht hatten - anfangs die Griechen, die zumeist vertrieben wurden, nach Kriegsbeginn die Armenier. [96]

Nach den Balkankriegen wurde die armenische Frage wieder sehr akut, zumal dann, als die Europäer die Reformen für die armenischen Provinzen beschlossen hatten. „Den Jungtürkenführern war klar“, schreibt Akçam, „daß es bei der Debatte um die Reformen in den von Armeniern bevölkerten Provinzen um die politische Zukunft der letzten Territorien unter osmanischer Kontrollen ging.“ So wurde Anatolien zum Zentrum der nationalen Interessen. [97]

Zwar hatte das armenische Patriarchat in Istanbul in mehreren Berichten an die osmanische Regierung die Mißhandlung der Armenier im Osten beklagt und Reformen angemahnt, auch hatten die Regierung einige Konzessionen (die Gleichstellung christlicher Zeugen vor Gericht beispielsweise) gemacht, scheiterte aber hauptsächlich an den Kurden und lokalen Politikern. Andererseits hatten die Armenier in den Hauptstädten der Großmächte Druck für Reformen ausgeübt, vor allem in Rußland. Dort hatte der Zar 1912 eine Kehrtwende eingeleitet und sich nunmehr vehement für die im Osmanischen Reich unterdrückten Armenier eingesetzt. Der im russischen Erivan residierende Katholikos, der oberste geistliche Führer aller Armenier, hatte den Zaren sogar darum gebeten, Türkisch-Armenien unter seinen Schutz zu stellen. [98/99]

Rußland ging es vor allem darum, so Akçam, die Deutschen daran zu hindern, Gebiete im schwächelnden Osmanischen Reich zu okkupieren und seine Einflußzone auszudehnen. Die Russen bewaffneten sowohl die Armenier als auch die Kurden in den Grenzregionen, um einen möglichen Krieggrund zu haben. Ferner unterstützten sie die Entsendung einer russisch-armenischen Delegation unter Bogos Nubar Pascha nach Europa. Die geplante Ansiedlung von muslimischen Flüchtlingen aus dem Balkan im Osten Anatoliens beunruhigt Rußland, so Akçam, weil es um seinen Einfluß fürchtete. Des Zaren Diplomaten machten Druck auf die Europäer, die in Berlin 1878 zugesagten Reformen endlich anzupacken. [99]

Um einer Intervention der Großmächte zuvorzukommen, hatte die osmanische Regierung ihrerseits Reformen geplant, beginnend mit den von Armeniern bewohnten Provinzen. Sie bat im April 1913 die Briten, ihnen fähige Beamte zu stellen, die die Reformpläne voranbringen könnten, doch die lehnten ab, weil sie keinen Konflikt mit Rußland wünschten. So einigten sich die Großmächte auf Gespräche über Reformen in den armenischen Provinzen in Istanbul. Doch „das Ringen darüber, welches Land die meisten Vorteile haben und wie Anatolien am besten aufgeteilt würde“, so Akçam, „war wichtiger als die Reformen selbst.“ [100]

Am 8. Februar 1914 einigten sich die Großmächte unter russischer und deutscher Führung darauf, die östlichen Provinzen in zwei Großprovinzen aufzuteilen, denen zwei unabhängige europäische Inspektoren vorstehen sollten. Diese wurden im April 1914 bestallt, aber mit Ausbruch des Krieges wurde war das Reformpaket zu Makulatur.

Die jungtürkischen Führer wußten, „daß die armenische Bewegung die tödlichste aller Herausforderungen war“, schrieb der US-Historiker Bernard Lewis. „Aus den eroberten Ländern der Serben, Bulgaren, Albaner und Griechen konnten sie sich, wenn auch zögerlich, zurückziehen, denn sie gaben nur entfernte Provinzen auf und holten damit die Reichsgrenze näher an die Heimat. Aber die Armenier, die sich in der asiatischen Türkei vom Kaukasus bis an die Mittelmeerküste ausdehnten, befanden sich im Herzen des türkischen Kernlandes - und diese Länder aufzugeben hieße nicht nur Abstiche am türkischen Staat zu machen, sondern bedeutete seine Auflösung.“ [101]

Die Großmächte gingen an die Sache nicht, um Reformen durchzuführen, sondern um herauszufinden, zitiert Akçam den deutschen Botschafter Freiherr Hans von Wangenheim, ob das „was von der Türkei übrigbliebe, überleben konnte oder ob es zusammenbrechen würde“. Die Türkei sei nicht in der Lage, so die Lagebeurteilung der Großmächte, sich mit eigenen Kräften zu verteidigen. Jeder suchte sich das beste Stück zu sichern. [101]

„Letztendlich war die Furcht vor diesem Plan die Entscheidung für den Völkermord“, schreibt Akçam, „denn eine Teilung hätte ein unabhängiges Armenien in Anatolien bedeutet und damit das Reich zerstört. Der im August 1920 in Sèvre unterzeichnete Vertrag hätte einen armenischen Staat in diesen Provinzen errichtet, wäre dort noch Armenier gewesen. Der Doyen der jungtürkischen Presse, Hüseyin Cahit Yalçın drückte es so aus: „Jene, die die Deportationen der Armenier planten und ausführten, retteten die Türkei.“ [102]

Als Enver Pascha im Januar 1914 zum Kriegsminister ernannt wurde, reorganisierte er sowohl die Armee als auch die Spezialorganisation., die „Dienste erbringen konnte, zu denen weder die Regierung noch öffentliche Kräfte fähig waren“, so Kuşçubaşı Eşref. Anfang 1914, so Kuşçubaşı, standen die Führer des Komitees vor zwei großen Problemen: Einmal einer mächtigen Opposition, die alle Freiheiten ausnutze, zum anderen separatistischen nichttürkischen Elementen, die die Integrität und Einheit des Reichs durch offene und verdeckt Mittel bedrohten.“ Zwischen Mai und August 1914 wurden vom inneren Komitee-Kreis weitere Meetings abgehalten, von denen „bestimmte Mitglieder der Regierung nichts erfuhren.“ [103]

Dabei wurden „detaillierte Pläne vorbereitet“, so Akçam, „Anatolien durch die Beseitigung der christlichen Bevölkerung zu türkifizieren.“ Die gleichen Maßnahmen wurden im Frühjahr 1914 für die Region der Ägäis getroffen. „[Das Komitee für] Einheit und Fortschritt traf eine klare Entscheidung“, berichtete der Journalist Nurdoğan Taçalan, „die Griechen sollten durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen entfernt werden. Denn allem voran sei es notwendig, die wirtschaftliche starken Griechen zu schwächen und zu bezwingen.“ Begonnen wurde mit dem Programm in Izmir, dem angeblichen Zentrum subversiver Tätigkeiten. Allerdings sei dort mit starkem Widerstand durch ausländische Mächte zu rechnen. [103]

„Die jungtürkische Regierung organisierte Terrorkampagnen, Überfälle und Raubzüge“, so Akçam, „aber nur durch die Spezialorganisation, um eine direkte Regierungsbeteiligung zu kaschieren.“ Diese Übergriffe beschrieb auch der britische Historiker Arnold Toynbee und erkannte sofort, daß „ganz offensichtlich systematisch vorgegangen wurde“ und die Taten „von Banden aus rumelischen Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung durchgeführt wurden, die nominell als Hilfskräfte der regulären osmanischen Gendarmerie fungierten.“ [104/05]

Die zweite nicht weniger brutale Welle von Vertreibungen der Griechen hatte der deutsche General Liman von Sanders organisiert, weil er, so in einem Bericht an die osmanische Regierung, die Verantwortung für die Sicherheit der Armee nicht mehr übernehmen könne. [105]

Etwa 300000 Griechen wurden nach Angaben des griechischen Premiers Eleftherios Venizelos getötet, 450000 deportiert. Im osmanischen Nachkriegsparlament war die Rede von 300000 bis einer halben Million vertriebener oder getöteter Griechen, deren Reichtum auf Muslime überging. Die beteiligten Jungtürken wurden mit hohen Posten belohnt. Die türkischen Abgeordneten erinnerten an die getöteten und vertriebenen Muslime des Balkans, deren Zahl Historiker Toynbee mit 413992 angab. [108]


Teil II Die Entscheidung für den Völkermord und die nachfolgenden Entwicklungen

Kapitel 4: Was führte zu den Entscheidungen zum Genozid?

„Die Deportationen und Massaker der Griechen von 1914 waren ein Vorgänger dessen was kommen sollte“, schreibt Akçam, „die jungtürkischen Führer waren durch ihren Erfolg bei der erzwungenen Vertreibung der griechischen Bevölkerung ermutigt.“ [111]

Die Vertreibung der Griechen fand vor dem Krieg statt, weshalb die osmanische Regierung aus Furcht vor Reaktionen der Großmächte extrem vorsichtig agierte und sich offiziell sogar davon distanzierte, indem sie die Deportationen und Morde als Taten einzelner herunterzuspielen versuchte. [111]

Nach Kriegsbeginn sahen die Jungtürken ihre Chance zur Türkifizierung des ganzen Landes gekommen. Der Historiker Ahmet Refik, lange Zeit Offizier in der türkischen Armee, schrieb 1919, daß die Vernichtung der Armenier eines der nationalen Ziele der Jungtürken wurde. Sie wollten das armenische Problem an der Wurzel beseitigen. [112]

„Heute herrscht in der Türkei die Meinung vor“, schreibt Akçam, „daß die osmanische Regierung gezwungen wurde, an Deutschlands Seite in den Krieg einzutreten. Das stimmt nicht.“ Das Komitee unternahm sogar große Anstrengungen für den Kriegseintritt gegen die Entente. Die CUP, das hätten die Nachkriegsbefragungen im Parlament ergeben, „entschied sich bewußt für den Krieg, um dringende Problem zu lösen.“ [112]

Mit dem Kriegseintritt wollten die Jungtürken vor allem drei Probleme lösen, so Taner Akçam: Die verhaßten Kapitulationen abzuschaffen und die armenischen Reformen zu beerdigen, verlorene Territorien zurückzuerobern und neue hinzuzugewinnen und schließlich die nicht-türkischen Minderheiten im Reich zu schwächen oder auszurotten. [112]

Die Kapitulationen waren den Jungtürken seit eh und je ein Dorn im Auge, „jede war ein Schlag gegen unsere Unabhängigkeit“, wie Cemal Pascha einmal sagte. Nun konnten sie relativ leicht abgeschafft werden, obgleich die neuen Partner Deutschland und Österreich-Ungarn auch von ihnen profitierten. [112/118]

Hauptmotiv für die Rückeroberungen verlorener Territorien war „Rache, Rache, Rache, da gibt es kein anderes Wort“, wie Enver am 8. Mai 1913 seiner Frau geschrieben hatte. 1914 schwor er: „Ich bin bereit, in den verbleibenden Jahren meines Lebens Rache zu nehmen an den Bulgaren, Griechen und Montenegrinern.“ Der für Erzurum und Van zuständige CUP-Inspektor Filibeli Hilmi schrieb: Wir sind mit Gottes Segen bereits mit den griechischen Hunden abzurechnen.“ Als Halil Menteşe 1914 das Parlament eröffnete, rief er seine Nation auf: „Laßt uns nichts vergessen! Vergeßt nicht das geliebte Saloniki, das grüne Monastir, Kosovo, Scutari, Jannina und das ganze schöne Rumelien.“ Die Parlamentarier antworteten: „Wir werden es nicht vergessen!“ Nach Eintritt in den Krieg schickte die Abgeordnetenkammer einen Aufruf an die Armee: „Der Tag der Rache, auf den Jung und Alt seit Jahrhunderten gewartet haben, ist gekommen. Ihr steht jetzt den Moskowitern und ihren Alliierten gegenüber, den Briten und Franzosen, den größten Feinden des Osmanischen Reichs und des Islam. Rächt die Heimstätten, die sie in Flammen aufgehen ließen, die Wunden, die sie geschlagen haben, die Märtyrer, die sie niedergetrampelt haben.“ [115/17]

Bei den Neueroberungen gingen die Meinungen auseinander. Während sich Großwesir Said Halim dafür aussprach, Turan und Ägypten, sowie Nordafrika zu vergessen, sahen die meisten Jungtürken im Krieg eine exzellent Gelegenheit, ein neues Reich mit zuverlässigen türkischen Gefolgsleuten zu schaffen. „Der Krieg war eine riesige Gelegenheit“, so der türkische Historiker Yusuf Hikmet Bayur, „für das Türkentum und den Islam.“ [112]

Ein türkisches Reich in Zentralasien wurde Enver Paschas Lieblingsobjekt und ein wichtiges Feld für Aktivitäten der Spezialorganisation. Den Russen einen Teil ihres Reichs zu entreißen, begeisterte auch den deutschen Kaiser. Als das Osmanische Reich am 11. November 1914 offiziell in den Krieg eintrat, schickte das CUP ein Memorandum an alle Abteilungen: „Das Ideal unserer Nation und unseres Volkes führt uns zur Vernichtung unseres Moskauer Feindes, um dadurch natürliche Grenzen für unser Reich zu bekommen, das alle Zweige unseres Volkes einschießt und vereint.“ Enver, der am 6. Dezember 1914 aufbracht, um Kars zu erobern, sagte, daß er „über Afghanistan nach Indien marschieren werde.“ Zusammen mit türkischen Stabsoffizieren lehnte sich der deutsche Generalstabschef der 2. Armee über die Karten, um die Grenzen des neuen Osmanischen Reichs festzulegen, soll der türkische Stabsoffizier von Cemal Pascha, dem Befehlshaber der 4. Armee, der spätere General Ali Fuat Erden berichtet haben. [113]

Eine Barriere für dieses neue Osmanische Reich waren die Armenier, denn sie siedelten zwischen der Türkei und den Turkvölkern in Zentralrußland. Im Oktober 1918 befahl Enver seinem Bruder Nuri, dem Heerführer der türkischen Truppen in Baku, Aserbeidschan von Russen und Armeniern zu „reinigen“, um die territoriale Vereinigung der Türken zu sichern. Selbst die türkische Nachkriegsregierung in Ankara verfolgte diese Träume. Außenminister Ahmet Muhtar sagte am 8. November 1920, daß die Entente-Mächte Armenien die Aufgabe zugewiesen hätten, „unsere Kommunikationslinien mit dem Osten zu kappen. Es ist absolut notwendig, daß Armenien, das sich in der Mitte einer großen islamischen Nation befindet, politisch und materiell ausgeschaltet wird.“ [114]

Vor dem Krieg waren die armenischen Reformen für die Jungtürken das größte Problem, weil sie die als Weg zur Teilung ansahen. „Rußland will die Autonomie Armeniens“, hatte der deutsche Botschafter Wangenheim am 1. August seinem Kanzler gekabelt, „gedacht als ein Schritt auf dem Weg nach Konstantinopel.“ Wären die armenischen Reformen durchgeführt worden, schrieb Halil Menteşe nach dem Krieg, in einem Brief an den britischen Premierminister David Lloyd Georges, dann „wäre Ostanatolien von der Türkei abgebrochen. Wäre Rußland nicht auf den Widerstand Deutschlands gestoßen, wäre es bereits 1912 geteilt worden.“ [118]

Dies war ein stetig wiederkehrendes Thema zwischen 1914 und 1916“, schreibt Akçam, „immer wieder vorgebracht, um die Entscheidung des Osmanischen Reichs zum Kriegseintritt zu begründen.“ Die Aufhebung der Reformen war eine der ersten Diensthandlungen der Regierung nach Kriegseintritt. Am 8. Februar 1914 unterzeichnet, wurden sie am 16. Dezember des gleichen Jahres für ungültig erklärt - zusammen mit anderen Abkommen, die das Osmanische Reich an Europa banden. [119]

Mehrfach hatten die Jungtürken die armenischen revolutionäre Vereinigungen aufgefordert, die Reformen als innertürkische Angelegenheiten anzusehen und ihre Appelle an die fremden Mächte einzustellen, was die ablehnten. Die Türken sahen darin den Versuch, die Schwäche des Landes auszunutzen. Halil Menteşe berichtete: „Zusammen mit Innenminister Talat Bey hatte ich mehrere Treffen mit den Führern der Daschnakzoutioun, um die Armenier von ihrem gefährlichen Weg abzubringen. Wir sagten ihnen: ‚Diese Maßnahme ist eine russische Falle, weder ihr noch wir sollten auf sie reinfallen. Kommt, laßt uns dieser Reformen in Zusammenarbeit durchführen’. Aber es war unmöglich, diese Traumtänzer zu überzeugen.“ [119]

„Die Jungtürkenführer“, schreibt Akçam, “vergaben den Armeniern nie diese als Verrat empfundene Haltung, und das sich abzeichnende Reformpaket verschlechterte die Situation der Armenier.“ „Die Armenier machten es den Balkanstaaten nach, aber sie übersahen die geographischen Unterschied“, schrieb Halil Menteşe nach dem Krieg dem britischen Außenminister Lord Curzon. „Gott hatte zwei oder drei Millionen Armenier in der Mitte von 30 Millionen Türken und Kurden angesiedelt. So führten sie einen Krieg gegen die Natur. Sie versuchten durch destruktive Methoden die Herrschaft einer Minderheit über dien Mehrheit herzustellen. Und sie erlitten die Folgen dieses Scheiterns.“ [120]

Viele ausländische Beobachter sahen das anders. Deutschlands Botschafter Wangenheim berichtete, daß sich Talaat offen dazu bekannt habe, „daß die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden - den einheimischen Christen - gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden.“ [121]
„Durch den Völkermord an den Armeniern“, so Akçam, „wurden die notwendigen Bedingungen für einen türkischen Staat in Anatolien geschaffen.“ Das sah auch Halil Menteşe so: „Wenn wir die östlichen Provinzen nicht von den mit den Russen zusammenarbeitenden armenischen Revolutionären gesäubert hätten, wäre es nicht möglich gewesen, unseren nationalen Staat zu etablieren.“ [122]

Der Krieg hatte für die Jungtürken eine weitaus größere Bedeutung als bislang bekannt, besonders der Krieg gegen Rußland. „Wir taten alles“, gestand der Finanzminister Cavid Bey nach dem Krieg, „damit unsere Neutralität gegenüber den Ententemächten verletzt wird.“ Enver & Co bereiteten Revolten gegen die Russen in Aserbeidschan und im Kaukasus vor, berichtete der österreichisch-ungarische Botschafter in Istanbul, Johann Markgraf von Pallavicini. [122]

Die Spezialorganisation koordinierte Angriff und Massaker in Rußland, indem sie kurdische Bauern provozierten, verriet der osmanische Minister Çürüksulu Mahmud Pascha nach dem Krieg, und Enver und Talaat hätten gehofft, daß Rußland der Türkei den Krieg erklärt. Einer der prominenten Anführer der Geheim-Organisation, Yusuf Rıza, befand sich sogar zu Kriegsbeginn in Rußland. Nach Ansicht von Wangenheim befanden sich zu jener Zeit etwa 50000 Muslime im Kaukasus im Aufstand. Ihre Aktionen wurden von Erzurum aus koordiniert, wohin auch im August und September 1914 die verschiedenen in Rußland operierenden Abteilungen berichteten. [123]

Der Erfolg freilich war mager und die Euphorie der Anfangszeit dahin. Zur Zeit der Vertreibung der Griechen glaubten die Jungtürken noch an ihren Staat und ihre herrschende Rolle. „Als sie über den Völkermord an den Armeniern entschieden“, schreibt Taner Akçam, „ hatten sie alle Illusionen verloren.“ Es ging, nach den Worten des bekannten Journalisten Doğan Avcıoğlu nur noch darum, „als Staat zu sein oder nicht zu sein.“ Akçam: „Dieser Meinungswechsel hatte direkte Auswirkungen auf die endgültige Entscheidung, die Armenier zu vernichten.“ [124]

Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatten die Osmanen den Westen verachtet und das Erlernen einer westlichen Sprache als Entwürdigung angesehen. Dem Hochmut folgte dann eine Sehnsucht nach den alten goldenen Zeiten. „Der Pan-Turanismus war ein Ergebnis dieser Sehnsucht“, schreibt Akçam, die unrealistischen Hoffnungen in den Ersten Weltkrieg waren ein anderes. Als dann 60000 bis 90000 türkischen Soldaten bei der Niederlage von Sarıkamış im Januar 1915 gegen Rußland fielen, erwachten die Jungtürken aus ihren turanistischen und islamistischen Träumen. Sie erfanden wie in solchen Fällen auch anderweitig üblich, eine Dolchstoßlegende - und als potentiellen Verräter und Mörder stellten sie die Armenier hin. [124/25]

„In Istanbul arbeitete die Propaganda-Maschinerie auf Hochtouren, um ein enormes Verbrechen vorzubereiten“, schrieb der damalige Offizier und spätere Historiker Ahmed Refik, „die Armenier hätten sich mit dem Feind verbündet, eine Revolution drohe in Istanbul auszubrechen, sie [die Armenier] würden die Jungtürkenführer töten und die Meeresstraßen [Bosporus und Dardanellen] mit Gewalt öffnen.“ [125]

Koordiniert wurde diese anti-armenischen Agitation vom Geheimdienst-Department des Verteidigungsministeriums. Nach dem Waffenstillstand von 1918 erklärte der im osmanischen Hauptquartier für das politische Department verantwortliche Oberst Seyfi Bey, er sei in Zusammenarbeit mit der Spezialorganisation und in engem Verbund mit Bahaettin Şakir einer derjenigen gewesen, der den Plan für die Ermordung der Armenier vorbereitet habe. [125]

Der Fall von Istanbul und der Verlust von Anatolien schienen zu Kriegsanfang unmittelbar bevorzustehen. „Es war kein Zufall“, schreibt Akçam, „daß der Völkermord an den Armeniern bald nach der Katastrophe von Sarikamiş stattfand und gleichzeitig mit den Kämpfen um Gallipoli. Eine Nation, die sich am Abgrund der Vernichtung befindet, zögert nicht, eine andere Gruppe zu vernichten, die sie für diese Situation verantwortlich macht.“ [126]

Anatolien planten die Jungtürken nicht nur zu türkifizieren, sondern als militärisches Bollwerk auszubauen, von wo aus der militärische Kampf mit bewaffneten Milizen weitergeführt werden könnte, notfalls „50 Jahre lang“, wie der jungtürkische Erziehungsminister Mithat Şükrü im November 1918 verriet. Die Regierung plante von Istanbul ins Innere nach Eskişehir oder Konya umziehen und auch die ausländischen Vertretungen wurden darauf vorbereitet. [127/28]

Es waren die gleichen Offiziere der Spezialorganisation, die die Verteidigung von Anatolien und den Völkermord an den Armeniern organisierten. Und es geschah zur gleichen Zeit - auch wenn keine Dokumente existieren, die einen Zusammenhang herstellen. Aber es gab mehrere Meetings, in denen erörtert wurde, wie die türkischen Verteidiger sich gegen die Armenier verhalten sollten, die im Moment der Besetzung Istanbuls sicherlich einen Aufstand versuchen würden. Talaat war bei diesen Planung fast immer anwesend. Der türkische Journalist Ahmet Emin Yalman berichtete hinterher: „Für einige einflußreiche türkische Politiker bedeuteten [die Deportationen] die Vernichtung der armenischen Minderheit in der Türkei, die zu einer rassischen Homogenisierung in Kleinasien führen würde.“ [128]

Der Leiter der Spezialorganisation, Bahaettin Şakir, habe gewußt, so Yalman, daß die Deportationen „vielleicht gegen die Gesetze des Landes und der Menschheit“ verstoßen würden. Er habe aber ausdrücklich betont, dazu bereits zu sein und für dieses Zeil mit seinem Leben zu bezahlen. Noch im Oktober 1920 rechtfertigte der türkische Abgeordnete Hasan Fehmi Bey den Völkermord an den Armeniern im Parlament: „Diese Dinge sind gemacht worden, um die Zukunft unserer Heimat zu sichern, die wichtiger und größer ist als selbst unsere Leben.“ [129]

Als offizieller Beginn des Völkermords an den Armeniern gilt der 24. April 1915, als 235 armenische Intellektuelle in Istanbul verhaftet und ins Landesinnere transportiert wurden. Aber das war mehr ein symbolisches Datum, denn schon am 19. April wurden Armenier in der Provinz eingekerkert und zum Teil unter Folter getötet. Einen Monat später gab die osmanische Regierung bekannt, daß insgesamt 2345 Armenier in Istanbul festgenommen worden waren. Akçam: „Viele wurden auf öffentlichen Plätzen hingerichtet, um die Armenier einzuschüchtern.“ [130]

Begonnen hatten die antiarmenischen Maßnahmen schon am Tag der Generalmobilmachung, dem 2. August 1914, als auf einem CUP-Meeting Reformen für die Spezialorganisation bekanntgegeben wurden. Sie sollte nunmehr ganz generell „die islamische Einheit und den türkischen Nationalismus“ sichern, also auch im Innern. CUP-Anführer Hilmi in Erzurum - wo ein eigenständiges Kommando der Spezialorganisation eingerichtet wurde -, schickte ein Kabel an Bahaettin Şakir: „Es gibt auch im Lande selbst Individuen zu beseitigen. Wir verfolgen dieses Ziel.“ Im Kriegsministerium wurde ein Exekutiv-Komitee für die veränderte Spezialorganisation aus Vertretern des Innenministeriums, des Kriegsministeriums und des CUP-Zentralkomitees gebildet, die auch den Code des Innenministeriums für ihre Befehle an Einheiten der Spezialisten verwenden durften. [131]

Neben Erzurum wurde auch Trabzon ein Zentrum der Spezialorganisation und der Infiltrierung des Kaukasus, wo auch deutsche Offiziere eine Rolle spielten. Später entstand unter Ömer Naci noch ein drittes Zentrum in Van. Wichtige zivile Akteure des Völkermords an den Armeniern, so Cemal Azmi Bey in Trabzon oder Ömer Naci in Van, leiteten die aktionen von diesen Zentren aus. Wichtigster Mann in der Armee wurde Mahmut Kâmil Bey, der die im Osten tätige Dritte Armee übernahm. Unter ihrer Obhut standen auch die von regulären Offizieren angeführten Freischärler, die beim Völkermord eine verheerende Rolle spielten - sie gab es aber auch in anderen Armeeeinheiten. [132/33]

Die Aufstellung der Einheiten der Spezialorganisation hatte in der zweiten Augustwoche 1914 begonnen, im September erhielten die Irregulären geheime Richtlinien. Auch Deutsche übernahmen Aufgaben, so der Artillerie-Hauptmann Stange in der Region Kars-Artvin. Diese Spezial-Einheiten rekrutierten sich aus kurdischen Stämmen, verurteilten Straftätern und Emigranten aus dem Kaukasus und Rumelien. Unter den Strafgefangenen waren besonders jene gefragt, so Hilmi in einem Brief nach Istanbul, „die bekannt dafür sind, gesetzlose Banden angeführt zu haben.“ Für die Rekrutierung von Kurden, Strafgefangenen und Emigranten und ihre konkreten Aufgaben führt Taner Akçam eine Reihe von schriftlichen Dokumenten an. In Istanbul wurden diese Sondereinheiten eine Woche lang trainiert. „Während des Völkermords an den Armeniern waren es diese Banden“, so Historiker Ahmet Refik, „die die größten Verbrechen begangen.“ Insgesamt sollen diesen Einheiten etwa 30000 Mann angehört haben. [134/36]

Im August 1914 hielten die Daschnaken einen Kongreß in Erzurum ab, zu dem eine bedeutende CUP-Delegation anreiste. Die CUP soll, so die vorherrschende Geschichtsschreibung, den Daschnaken eine Autonomie angeboten haben, wenn sie dafür Aufstände in Rußland anzettelten, was die armenischen Revolutionäre ablehnten. Die türkische Historiographie sieht darin einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Türken und Armeniern. Die Daschnaken hätten sich für einen geheimen Aufstand entschieden, so die offizielle türkische Version, was die folgenden Deportationsbefehle unvermeidbar machten. [136/37]

Bahaettin Şakir hatte mit den Armeniern auf dem Kongreß gesprochen und das Ergebnis nach Istanbul gemeldet. Der Parteisekretär Mithat kabelte ihm daraufhin, „aus dem Geschriebenen ist zu schließen, daß die Armenier nicht zu gemeinsamen Aktionen mit uns bereit sind“, worauf er einen Befehl herausgab, daß „es deshalb notwendig sei, ihnen gegenüber den Weg zu verbergen, den wir beschlossen haben.“

Die Wahrheit sah, so Taner Akçam, dann doch anders aus. Die bedeutende CUP-Delegation war nicht des Daschnakenkongresses wegen nach Erzurum gereist, sondern um die irregulären Einheiten aufzubauen. Der Kongreß habe einen guten Vorwand geliefert für die Reise der wichtigen CUP-Funktionäre. Die jungtürkischen Teilnehmen wollten sogar die Kongreß-Teilnehmer der Daschnaken umbringen. Ein in Memoiren abgedrucktes Dokument gibt dazu Details: „Die notwendigen Vorbereitungen waren für die Individuen getroffen, die Erzurum verlassen hatten.“ Der Autor Des Dokuments bestätigte, daß Bahaettin Şakir gewünscht habe, „daß diese Leute auf dem Weg gefaßt und liquidiert würden.“ Aber die Armenier „entgingen den Mördern, indem sie die Spuren ihrer Wege verwischten.“ [137]

Nachdem die türkisch-kurdischen Banden gebildet waren, „begannen sie militärische Operationen in Rußland und gegen die Armenier“, schreibt Akçam. Im September griff die Miliz besonders entlang der osmanisch-russischen Grenze einzelne armenische Dörfer an sowie armenische Intellektuelle und politische wie religiöse Führer.“ Türkische Offiziere berichteten: „Die besten Offiziere und die mutigsten Individuen in der Einheit des 9. Armeecorps in Erzurum wurden den bewaffneten Banden zugeteilt, die Bahaettin Şakir gebildet hatte. Ich sah, wie diese Gangs nicht vor uns vorrückten, sondern hinter uns zurückblieben und Dörfer überfielen.“ [138]

Taner Akçam zitiert auch viele deutsche Quellen, die von den Überfällen auf christliche und muslimische Dörfer berichteten. Die Zerstörungswut der Banden der Spezialorganisation führte auch zu Spannungen mit der türkischen Armee. Vor allem aber kostete sie Zehntausenden von Armenier das Leben, bevor die eigentlichen Todestransporte begannen. Aber auch in den Nachkriegsprozessen wurde von Überfallen auf armenische Dörfer im Landesinnern - beispielsweise in der Region von Yozgat - berichtet. Diese Überfälle waren eine traurige Tradition, doch mit dem Kriegseintritt bekamen sie eine neue Dimension. [139-140]

„Gleich nach der osmanischen Generalmobilisierung“, schreibt Akçam, „wurden die Armenier als suspekte nationale Gruppe erklärt.“ Am 6. September 1914 schickte die Regierung verschlüsselte Telegramme in alle Provinzen, in denen es eine große armenische Bevölkerung gab und befahl, daß prominente Mitglieder der armenischen politischen Parteien überwacht würden. Im gleichen Monat erklärte die Dritte Armee, daß die armenischen Soldaten in osmanischen militärischen Einheiten als suspekt angesehen würden. In einem folgenden Memorandum wurde angeordnet, alle armenischen Soldaten zu entwaffnen. [141]

Alle Armenier zwischen 20 und 45 Jahren wurden nach der Mobilisation eingezogen. Die 15- bis 20jährigen und die 45- bis 20jährigen mußten in Arbeitsbataillonen dienen oder als Träger für die Armee. Da diese Armenier besonders im Osten immer wieder überfallen wurden, kam nur ein Bruchteil von ihnen nach wochenlangen Trägerdiensten wieder in seine Heimat zurück. [142/143]

Nachdem die Niederlage in Sarıkamış den Armeniern in die Schuhe geschoben worden war, wurden viele der dienenden Soldaten einfach umgebracht. Enver bezeichnete die Armenier generell als „Bedrohung“ und schlug vor, „die Armenier aus ihren Siedlungsgebieten zu entfernen und sie zu anderen Regionen zu schicken.“ Gleichzeitig ließ er dem armenischen Patriarchen in Istanbul einen Dankesbrief überbringen, in dem er die Tapferkeit der armenischen Soldaten lobte und „der armenischen Nation dankte, die für ihre unbedingte Loyalität gegenüber der osmanischen Regierung bekannt“ sei. [143]

Diesen Dankesbrief hatte der osmanische Kriegsminister am 26. Februar verfaßt - einen Tag nachdem er angeordnet hatte, alle armenischen Soldaten zu entwaffnen. Kein Armenier dürfe fortan in der Armee dienen, auch nicht in der offiziellen Gendarmerie oder in den Büros der Hauptquartiere beschäftigt sein. Schon im März berichteten ausländische Beobachter erstmals, daß armenische Soldaten regelrecht hingerichtet wurden. Diese Massenmorde armenischer Soldaten nahmen nach den Deportationsbefehlen vom Mai 1915 noch zu und dauerten bis 1916 an. [144]

In einem einzigen Fall wurde bekannt, daß ein türkischer Armee-Kommandeur - Vehip Pascha - die Erschießung armenische Soldaten kriegsgerichtlich untersuchen und den verantwortlichen Feldwebel Nuri Effendi zum Tode verurteilen ließ. [145]

„Die Deportationen der Armenier begannen im Februar 1915 als eine lokale Kriegsmaßnahme in Kilikien“, schreibt Taner Akçam. Nach einem Telegramm sollte „nicht ein einziger Armenier in der Erzin-Region bleiben“, ferner sollten „die Armenier von Dörtyol nach Osmaniye, Adana und Ceylan geschickt werden.“ Es folgte im März die Deportation der Armenier aus der kilikischen Armenierhochburg Zeytun, von denen einige Tausend anfangs in die Region Konya geschickt, später aber alle in die syrische Wüste nach Der Sor deportiert wurden. [145]

Die offizielle türkische Historiographie stellt Zeytun als die erste Rebellion von Armeniern gegen die osmanische Regierung dar. Der damalige Generalgouverneur von Aleppo, Celal Bey, machte hingegen den lokalen türkischen Beamten für die Ereignisse verantwortlich, die kaum als eine Revolte bezeichnet werden könne. Daraufhin wurde ihm die Zuständigkeit für Zeytun entzogen. [145/46]

Die Türken fürchteten eine englische Landung in Kilikien und tatsächlich machten einige britische Kriegschiffe im Hafen von Iskenderun fest, von wo aus sie Erkundungsteams aussandten. Die Armenier der Region (und generell in der Türkei) sympathisierten zweifellos mit der Entente und die Armenier Großbritanniens hatten auch 20000 Kämpfer für Kilikien angeboten. Aber den Plan einer Besetzung des türkischen Südsostens gaben die Briten bald wieder auf. [146/47]

Da aber hatten die Türken die Deportation der Armenier aus ihren wichtigsten Siedlungsgebieten bereits geplant. In einem Brief des Innenministeriums hieß es: „Es ist mündlich beschlossen worden, daß die Armenier aus den östlichen Provinzen, aus Zeytun und solchen Gebieten, die dicht von Armeniern besiedelt sind, in den Süden der Provinz Diyarbekir, in das Tal des Euphrats und die Umgebung von Urfa und Suleymaniye zu verschicken sind.“ [147]

Fazit: die Maßnahmen gegen die Armenier hatten bereits vor Kriegsausbruch begonnen. Nacheinander wurden vier Methoden angewandt. 1) Nach der allgemeinen Mobilisierung im August 1914 kam es zu Razzien in Dörfern unter dem Vorwand des Steuerteintreibens, zu gewaltsamen Einberufungen, Konfiskationen von Besitztümern und zur Verfolgung von Deserteuren; 2) Im September 1914 begannen Überfälle und Massaker in den Grenzdörfern durch die Spezialorganisation, die sich im Winter verstärkten; 3) Gleich zu Beginn des Kriegeintritts im November die Entwaffnung der armenischen Bevölkerung und 4) strategische Deportationen aus bestimmten „Problemzonen“. [147]

„Die Entwaffnung der armenischen Bevölkerung“, schreibt Akçam, „sollte detaillierter betrachtet werden“. Die Daschnaksutiun, hätte der deutsche Offizier Louis Mosel berichtet, verfüge „anscheinend über reiche Geldmittel, Waffen, Munition und Bomben“. Der deutsche Konsul in Aleppo, Rößler, schrieb, daß die Daschnaken in Marasch und Umgebung „sich vor gelegentlichem Waffenschmuggel nicht scheuen“. Vizekonsul Scheubner-Richter berichtete aus Erzurum: „An vielen Stellen waren seit langem Waffen angesammelt worden - anfänglich wohl nur zu Zwecken der Selbstverteidigung bei einem eventuellen Massacre, später wohl auch fuer einen bewaffneten Aufstand.“ [148]

Doch bei der generell unsicheren Lage war das Tragen von Feuerwaffen nicht erstaunlich. Der britische Konsul von Mersin stellte fest: „Gemäß der Verfassung kann jeder Waffen tragen. Es sind Tausende von Revolvern gekauft worden.“ Die CUP selbst hat während de Unruhen von 1909 viele Waffen an die Armenier verteilt, als die zusammen mit den Jungtürken gegen die Regierung kämpften. Später wurden auch armenische Dörfer bewaffnet, damit sie gegen die Reaktion kämpfen konnten. Diese Waffen wurden nun gewaltsam und zum Teil unter Foltern von den Armeniern wieder eingesammelt, während muslimische Zivilisten gleichzeitig mit Waffen versorgt wurden. [148]

Doch das alles reichte den Jungtürken noch nicht. Taner Akçam: „So fiel die Entscheidung zum Völkermord an den Armeniern, um ‚eine vollständige und fundamentale Beseitigung’ des armenischen Problems zu gewährleisten.“ [148]


Kapitel 5: Die Entscheidung und ihre Nachwirkungen

„Nach dem August 1914 glaubten viele, daß die Vernichtung der Armenier unmittelbar bevorsteht“, schreibt Akçam, „in den Memoiren aus jener Zeit behaupten die Autoren, daß die Entscheidung über die Armenier schon während des Winters 1914 gefallen sei.“ [149]

Anfang März 1915 schriebt die Daschnaken-Zeitung Azatamar aufgrund von Berichten ihrer Provinzorganisationen: „Die Absicht der Regierung geht in Richtung auf eine Vertreibung der Armenier aus ihren Siedlungsgebieten.“ Die ganze armenische Nation lebe in der „Furcht vor einem allgemeinen Massaker.“ Besonders die deutschen Konsuln berichteten aus ihren Dienstgebieten vom nahenden Unheil. Die schwedische Krankenschwester in deutschen Diensten, Alma Johansson, schrieb über die Türken in Musch: „Im Nov. 1914 wurde es amtlich zugegeben, daß sie nur auf einen Anlaß zum Massaker warteten, sobald sie einen finden würden, würden sie nicht einen Armenier am Leben lassen.“ Die dänische Schwester Hansine Marcher berichtete von einem Gespräch, daß der kurdische Generalgouverneur von Harput gesagt habe: „Die Armenier der Türkei müssen und werden getötet werden.“ Der deutsche Vizekonsul Scheubner-Richter berichtete von den jungtürkischen Hardlinern in Erzurum, die „unumwunden zugegeben“ hätten, „dass das Endziel ihres Vorgehens gegen die Armenier die gaenzliche Ausrottung derselben in der Tuerkei ist. Nach dem Kriege werden wir ‚keine Armenier mehr in der Türkei haben’ ist der wörtliche Ausspruch einer maßgebenden Persoenlichkeit.“ [150]

Die Mißerfolge der Spezialorganisation im Osten und die Niederlage der Armee bei Sarıkamış hatten den Pan-Turan-Traum zerstört. Die Disziplinlosigkeit der Irregulären führte darüber hinaus zu heftigen Disputen zwischen ihnen und der Armee, denn die Angehörigen der Spezialorganisation hatten auch mehrere muslimische Dörfer zerstört und dort sogar Massenerschießungen veranstaltet. Überdies wußten viele Offiziere der regulären türkischen Armee nichts von ihrer Existenz und verlangten, sie dem Heer einzugliedern. Daraufhin setzte Şakir durch, daß die Spezialorganisation künftig nicht mehr dem Kriegsministerium untersteht und sich fast nur noch um den angeblichen inneren Feind widmet - den Armeniern. [151]

„Es ist sehr wahrscheinlich“, schreibt Akçam, „daß die Schlüsselentscheidungen über die Massaker mit der CUP im März 1915 getroffen wurden.“ Darin wurde bestimmt, daß Spezialorganisationschef Şakir künftig nur noch für die Armenier-Vernichtung zuständig ist und daß die Deportationsgesetze formuliert werden. „Als Bahaettin Şakir kurze Zeit später zur kaukasischen Front zurückkehrte“, schreibt Akçam, „waren die neuen Arrangements unter Dach und Fach.“ Am 5. April 1915 kündigte Talaat die Ankunft Şakirs in Erzurum an. [152]

Daß die Entscheidung Ende März gefallen und mit den Deutschen diskutiert worden war, geht auch aus einer Bemerkung Envers hervor, der dem Chefredakteur des wichtigen Jungtürkenblattes Tanin, Hüseyin Cahit, gegenüber äußerte, die Lösung der armenischen Bedrohung bestünde darin, „sie zu entfernen und woanders hinzuschicken.“ Am 18, März reiste Halil Menteşe, wie er in seinen Memoiren schrieb, nach Berlin und erhielt dort ein Telegramm: „Warte, wir haben eine wichtige Aufgabe für Dich“. Als Halil antwortete, die könne doch auch der Finanzminister Cavit Bey übernehmen (ein Gegner des Krieges und Sympathisant der Entente), antwortete Talaat: „Nein, das kann Cavit Bey nicht übernehmen. Warte dort.“ Als Halil im Mai nach Istanbul zurückkehrte, berichtete er, habe ihn Talaat am Bahnhof abgeholt. „Sag mir, lieber Halil“, soll er sich an ihn gewandt haben, „was hast Du in Berlin in Bezug auf die Deportationen der Armenier diskutiert?“. [152]

Aus Cavids Tagebuch geht hervor, rekonstruiert Taner Akçam, daß er davon ausging, Halil käme am 28. Februar in Berlin an. Halil aber kam am 6. (und nicht am 18. März, wie er selbst schrieb). Nach einigen Ausflügen kehrte Cavid am 22. März nach Berlin zurück, und traf Halil am folgenden Tag. Von diesem Treffen ist auch in Cavis Tagebuch die Rede, allerdings datiert er es auf den 30. März. Bei diesem Treffen berichtete Halil Cavid von dem Telegram aus Istanbul und dem Befehl, in Berlin zu bleiben. Das Telegram aus Istanbul muß also vor dem 23. März abgeschickt worden sein. „Der Zeitpunkt der Entscheidung [gegen die Armenier] ist insofern wichtig“, schreibt Akçam, „als sie vor dem armenischen Aufstand in Van getroffen wurde, obgleich der Aufstand üblicherweise als Grund für die Entscheidung genannt wird.“ [152/53]

Der russische Kadettenführer und liberale Politiker Pawel N. Miljukow hatte in einer Rede in der Duma behauptet, Enver hätte ihm erklärt, daß die Staatsinteressen der Türkei eine allgemeine Aussiedelung der Armenier aus Armenien erfordere. Ferner habe er darum gebeten, Deutschland möge dem nicht im Wege stehen und Botschafter Wangenheim möge von sich aus dieses Anliegen in Berlin unterstützen. Als Resultat dieser Erklärung, so Miljukow, habe Wangenheim im April 1915 einen „fertigen Plan“ nach Berlin telegraphiert, der auf diesen anti-armenischen Stimmungen beruht habe. [153]

„Wir haben viele Anzeichen dafür“, schreibt Akçam, „daß die Entscheidung für den Völkermord nach langen Diskussionen vom Zentralkomitee des CUP getroffen worden ist.“ das geht vor allem aus den Schriftstücken hervor, die in den Nachkriegsprozessen an den Tag kamen. Ihsan Bey war zur Zeit der Entscheidung Präfekt von Kilis. Nuri Bey, der stellvertretende Direktor des Büros für die Ansiedlung von Stämmen und Flüchtlingen kam bei ihm auf seiner Reise von Istanbul nach Aleppo vorbei und sagte ihm daß die Absicht der Deportationen die Vernichtung sei. „Ich hatte Kontakt zu Talaat“, habe er gesagt, „und habe persönlich den Vernichtungsbefehl erhalten.“ Der General Vehip Pascha sagte vor Gericht aus, daß die Befehle und ihre Überwachung von CUP-Mitgliedern und einigen führenden Mitgliedern der Regierung stammten. Die Entscheidung für Massaker sei vom Zentralkomitee gefällt worden“, so steht es in einem der Urteil, „und durch Spezial-Boten an die Provinzbehörden überbracht worden. [153/54]

Das wichtigste Dokument zum Beweis, daß die Vernichtung der Armenier vom Komitee für Einheit und Fortschritt beschlossen wurden, ist der Bericht des Innenministeriums an den Großwesir vom 26, Mai 1915, das mehrmals auch in aktuellen türkischen Veröffentlichung zitiert wird, aber niemals im vollem Text. Allerdings kommt auch dort der wichtige Satz vor, daß die armenische Frage „auf umfassende und absolute Weise zu einem Wende gebracht“ worden sei. Veröffentlicht wurde der Brief am 24. Februar 1920 von der türkischen Zeitung Ati. Begründet wurde die Entscheidung mit der Einmischung des Auslands in der Reformfrage und der daraus folgenden „Fragmentierung des Osmanischen Reichs“. Mit den gleichen Worten hatte Talaat am 9. Juli 1915 die Entscheidung auch gegenüber dem US-Botschafter Henry Morgenthau begründet. Als der den Innenminister darauf aufmerksam machte, daß die Türkei von der ganzen Welt dafür verurteilt würde, habe Talaat geantwortet, sie wüßten sich schon zu verteidigen. Morgenthau: „Mit anderen Worten. Das scherte sie einen Teufel.“. [155]

Am 3. August wiederhole Talaat die Gründe der Entscheidung in einem weiteren Gespräch und bestand darauf, so Morgenthau, daß „das CUP-Komitee die Sache sorgfältig geprüft habe und die Durchführung offizielle Politik“ sei: „Ich solle nicht denken““, habe Talaat gesagt, „daß die Deportationen hastig entschieden worden sind, in Wahrheit waren sie das Ergebnis von langen und sorgfältigen Diskussionen“ gewesen. [155/56]

Diese Version wird auch von den Deutschen bestätigt. Am 30 Juni 1915 hatte der für die armenischen Angelegenheiten in der deutschen Botschaft zuständige Generalkonsul Johannes Heinrich Mordtmann, der in ständigem Kontakt mit dem Innenministerium und auch mit Talaat stand, den Entwurf eines Memorandum nach Berlin geschickt, dem er folgende Passagen voranstellte: „Wie die Telegramme aus Samsun, Trapezunt und Harput (letztere von Pfarrer Ehmann) zeigen, und wie mir vor einigen Tagen Djanbulat bej mit der Karte von Anatolien in der Hand mündlich bestätigte, hat die Türkische Regierung letzthin beschlossen die Ausweisungsmaßregeln gegen die Armenier noch weiter auszudehnen: so sollen nunmehr auch die Armenier in den Provinzen Djanik, Trapezunt, Sivas und Mamuret ul Aziz nach Mesopotamien abgeschoben werden. Das läßt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talaat bej vor einigen Wochen sagte, darum die Armenier zu vernichten.“ [156]

Fast alle türkischen Regierungsmitglieder - mit Ausnahme von zwei oder drei von ihnen - wußten nichts von den Entscheidungen der CUP-Zentrale. Nach dem Krieg behauptete der Justizminister Ibrahim Bey vor Gericht: „Diese Prozedur wurde ohne jeden Befehl der Regierung ausgeführt.“ Und Großwesir Said Halim sagte ebenfalls vor Gericht: „Im Kabinett ist darüber nicht ein einziges Wort gesagt worden.“ Eşref Kuşçubaşı bestätigte, daß die Regierung niemals über die Meetings und Pläne informiert gewesen sei. Als Said Halim nach dem Krieg von armenischen Rächern erschossen wurde, kommentierte Kuşçubaşı: Als Insider könnte er sagen, daß der Großwesir nichts wußte. Er sei für nichts getötet worden. [156/57]

Ohnehin wurde nichts protokolliert. Selbst die Entscheidung zur Mobilisierung der Armee sei nur mündlich besprochen worden, behauptete Erziehungsminister Ahmet Şükrü. In seinen Memoiren behauptet Talaat, das Parlament sei zwischen dem 11. Februar und 1. März 1915 geschlossen worden, weil „die Spezialorganisation sich bewußt war, daß einige nicht-muslimische Mitglieder sowohl des Abgeordnetenhauses als auch des Senats vitale Informationen und Entscheidungen dem armenischen Patriarchat als auch den Botschaften mitteilen würden. [157]

In diese Zeit fiel die Abkopplung der Spezialorganisation vom Kriegsministerium. Die reorganisierten Irregulären führte nunmehr - unter direkter Kontrolle durch die Partei - den Völkermord an den Armeniern durch. Der deutsche Kriegsfreiwillige Carl Schlimme berichtete, er habe „zwischen Mamachatun und Ersindschan eine etwa 400 Mann starke Bande unter französisch sprechenden Führern getroffen, die anscheinend auf die Armenier aus Erzerum warteten.“ Der deutsche Major Dagobert von Mikusch berichtete, daß „zwischen Nisibin und Tell Ermen Ersatztruppen (entlassene Sträflinge) einschliesslich ihres Offiziers freudestrahlend von Massacres erzählt und ein niedergemetzeltes armenisches Dorf vollständig ausgeraubt“ hätten. Viele deutsche Konsuln und ihrer Informanten berichteten von den Greueltaten der Irregulären. [158]

Auch in den Nachkriegsprozessen wurde klar, daß die Spezialorganisation die Morde an den Armeniern durchführte. „Die Morde und Plünderungen fanden nicht in der Stadt selbst statt, sondern alle außerhalb und auf organisierte Art und Weise“, so das Urteil im Trabzon-Prozeß. Viele prominente Muslime, darunter höchste Verwaltungsbeamte wie Generalgouverneure und prominente Offiziere, wohnten den Abschlachtungen als Zeugen bei und sagten im Trabzon-Prozeß aus. [159]

„Aus den abgeschickten Telegrammen geht klar hervor“, schreibt Akçam, „daß die erste Welle von Deportationen aus Zeytun und Dörjol noch strategisch motiviert waren.“ Der Wandel von strategisch motivierten zu allgemeinen Deportationen fand während des Van-Aufstands statt. Von nun an wurden die Deportierten in die syrische Wüste geschickt. [159]

Am 9. Mai ordnete das Innenministerium die Deportationen der Armenier um Van an sowie die der Region südlich von Erzurum, Musch und dem Sason-Gebiet. Am 18. Mai folgte die Anordnung, daß die bereits Ende April oder Anfang Mai aus Erzurum vertriebenen Armenier in die südlichen Gebiete von Mossul und Urfa und in die Provinz von Der Zor zu deportieren seien. [160]

Der Völkermord selbst wurde auf zweifach Art durchgeführt, so Akçam. Zuerst wurde vom Innenministerium - genauer dem Department für Öffentliche Sicherheit - ein offizieller Deportationsbefehl an die Provinzregierung geschickt, die für die Durchführung der Deportationen zuständig war. Dann gab es getrennte, inoffizielle Befehle vom CUP-Zentralkomitee, die über Parteikanäle weitergeleitet wurden, und deren Inhalt die Vernichtung der Deportierten vorsah. [161]

Wenn die lokalen Regierungsstellen die Befehle vom Innenministerium erhielten, gaben sie diese an die Sicherheitskräfte der Region weiter, üblicherweise an die dem Innenministerium unterstehende Gendarmerie, die für die Aufrechterhaltung der Sicherheit in den Provinzen zuständig war. Gleichzeitig schickte die CUP den Vernichtungsbefehl an die lokalen Regierungsstellen. Der Überbringer war üblicherweise eine Parteisekretär - manchmal sogar Bahaettin Şakir persönlich -, der von Provinz zu Provinz reiste und die schriftlichen Dokumente überreichte oder den Befehl nur mündlich weitergab. Wenn lokale Regierungsstellen den Befehl nicht befolgten, wurden sie versetzt. [161/62]

Nach der Erhalt des Befehlt forderte die Gendarmerie die Armenier auf, sich an zentralen Stellen zu sammeln. Von dort aus begleiteten die Polizisten die Deportierten auf ihren Wegen. Kam die Gendarmerie an der Provinzgrenze an, übergab sie die Deportierten an die Kollgen der nächsten Provinz. Das war oft der Ort, an dem die mit den Geheimbefehlen versehene Spezialorganisation die Deportierten übernahm und aus der Deportation wurde dann die sofortige Vernichtung. [162]

In einer Rede am 21. November 1918 beschieb Nachkriegs-Kabinettsminister Reşit Akif Pascha vor dem Parlament genau diese Prozedur: „Während meiner wenigen Tage in der Regierung erfuhr ich von einigen Geheimnissen und habe interessante Dinge kennengelernt. Der Deportationsbefehl wurde vom Innenminister über offizielle Kanäle an die Provinzen weitergeleitet. Danach erließ das Zentralkomitee ihre eigenen ominösen Befehle an die Parteien, um den Banden zu erlauben, ihre verflixten Taten auszuführen. So waren die Banden bereits vor Ort, bereit für ihre schrecklichen Schlächtereien.“ Nachzulesen im offiziellen werk Meclis-i Ayan Zabıt Ceridesi, Periode 3, Parlamentsperiode 5. Band 1, Seite 123. Auch Armee-Führer Vehip Pascha bestätigte vor Gericht ausdrücklich diese Aufgabenteilung. [162/63]

In manchen Regionen gab es strikte Befehle, die Armee aus dem Mordgeschehen herauszuhalten. Die Armee griff dann nur ein, wenn die zivilen Stellen sie darum baten. In anderen Regionen wurden die Vernichtungsaktionen aber auch direkt von der Armee durchgeführt. Die Arbeitsaufteilung und die Frage der Verantwortung während der Deportationen war eine Quelle von Spannungen zwischen den militärischen und zivilen Stellen. [162]

Die regionalen Parteisekretäre spielten bei der Durchführung der Tötungsmaßnahmen eine herausragende Rolle. „Es ist eine Tatsache“, so der türkische Historiker Cemal Kutay, „daß sie die endgültige Entscheidung über alle wichtigen Fragen hatten.“ Sie waren „die Träger des Unionismus“, der Staatsidee der Jungtürken also, so Forscher Tarik Zafer Tunaya. Sie waren, so eine Urteilsbegründung „der geheime Arm in der Regierung.“ [163]

Den Parteisekretären oblag die Organisation der auch Tschetes (çete) genannten Banden der Spezialorganisation. „Die verantwortlichen Sekretäre sollen geheim innerhalb einer Woche alle Leute benennen“, hieß es in einem Telegramm der Spezialorganisation an das CUP-Zentralkomitee, „die mitzuarbeiten bereit sind.“ Sie waren, so ein Urteil, „die Mitschuldigen an den Verbrechen der Partei.“ Ihre Macht war so groß, daß sie selbst Generalgouverneure absetzten konnten, wenn die sich weigerten, die Tötungsbefehle gutzuheißen, wie im Fall von Mazhar Bey (Ankara) oder Reşit Pasch (Kastamonu) geschehen. [163/64]

Wenn die Parteisekretäre die Vernichtungsbefehl überbrachten, wurden die in der regel vorgelesen und dann vernichtet. Der stellvertretende Gouverneur von Yozgat, Cemal, berichtete vor Gericht, den geheimen Vernichtungsbefehl vom verantwortlichen Sekretär für Ankara, Necati, bekommen zu haben. Der Befehl sei auf Geheiß des Zentralkomitees ausgestellt worden und lag auch in schriftlicher Form vor, obgleich Necati dem Gouverneur Cemal nicht erlaubte, ihn zu lesen. [165]

Der Präfekt von Baiburt, Nusret, bescheinigte vor Gericht, den Befehl aus Istanbul bekommen zu haben, nicht einen einzigen Armenier am Leben zu lassen und jeden, der sich dem in den Weg stellte hinzurichten. Der Venezuelaner Rafael de Nogales war als Offizier der Armee Zeuge der Massaker von Diyarbakır. Als er mit dem Provinzgouverneur Dr. Mehmet Reşit Şahingiray darüber sprach, sagte ihm der, die Tötungen seien befohlen worden. Er gab sogar den eindeutigen Hinweis, daß er das Telegram von Talaat erhalten habe. [165]

Nach allen den Gerichten vorgelegenen Dokumenten war Şakir direkt für die Massaker an den Armeniern verantwortlich. Er wird in den Dokumenten „Kopf der Spezialorganisation“ genannt, der ihrerseits zugeschrieben wird, „für den Zweck der Zerstörung und Vernichtung der Armenier“ zuständig zu sein. Er besaß zwei Geheimcodes: einen des Innenministeriums, den andere der Regierung. [165/66]

In einem Telegram erkundigte sich Şakir genau, ob die Deportierten vernichtet worden seien oder nur verschickt und bat um eine klare Antwort. In einem Telegramm nach Antalya fragte er: „ Nun, wo die Armenier nach Zor versandt worden sind, so daß nicht einer von ihnen in der Region rund um Erzurum, van, Bitlis, Diyarbekir, Sivas und Trabzon geblieben ist, was ist mit denen in Antalya geschehen?“ Auch diese Telegramme mußten nach der Lektüre zerstört werden, wie hohe Regierungsbeamte vor Gericht aussagten. [166]

Weigerten sich Beamte, die Befehle auszuführen, riskierten sie ihr Leben. Der Landrat von Lice, Hüseyin Nesimi, war beispielsweise nicht bereit, einen mündlichen Befehl auszuführen und verlangte eine schriftliche Form. Er wurde entlassen, nach Diyarbakir beordert und auf dem Wege dorthin auf Befehl von Dr. Mehmet Reşit ermordet. Aus ähnlichen Gründen umgebracht wurden der General-Gouverneur von Basra, Bedri Nuri, der stellvertretende Gouverneur von Müntefak, Sabit, der stellvertretende Präfekt von Beşiri, Ismail Mestan sowie ein Journalist. Auch der Präfekt von Midyat wurde auf Reşits Befehl ermordet, weil er keine Christen umbringen wollte. So ging es auch dem Präfekten von Bafra. [166/67]

Auch der Gouverneur von Erzurum, Tahsin Bey, widersetzte sich Vernichtungsbefehlen und forderte die Zentrale mehrmals auf, die Deportationen der Armenier zu stoppen, denn „Spionage oder Zersetzung“, was ihnen vorgeworfen würde, „hat nicht stattgefunden“. Seinen Widerstand bestätigte auch der deutsche Vizekonsul in Erzurum, Scheubner-Richter, doch Tahsin habe ihm erklärt, er habe nicht die Macht, sich gegen die Militärs durchzusetzen. [167]

Der Deportationskommissar Abdulahad Nuri in Aleppo berichtete vor Gericht, Talaat habe ihm gesagt: „Die Absicht der Deportationen ist die Vernichtung [der Armenier]“. Im Yozgat-Prozeß wurde eine ganze Reihe von Telerammen verlesen, nach denen unter Deportationen der Armenier ihre Vernichtung zu verstehen sei. [168]

Aus den deutschen Akten des Auswärtigen Amts geht hervor, daß Talaat als die Seele der Vernichtungsmaschinerie gegen die Armenier angesehen wurde. Das bestätigen auch Telegramme, die vor den türkischen Gerichten verlesen wurden, obgleich es oft um die Verschleierung der Morde ging. Den Deutschen legte Talaat sogar mehrere Telegramme vor, nach denen er humane Deportationen angeordnet habe. Die deutschen Konsuln forschten nach und stellten fest, daß die Telegramme nur Lügen seien, um die Ausländer zu beruhigen. Adana-Konsul Büge nannte sie „dreiste Täuschungen“, weil auf Betreiben des gleichzeitig entsandten Inspektors Ali Munif Bey die Regierung gleich darauf „diese Verfügung vollkommen aufgehoben hat“. Talaats Privatsekretär Falih Rıfkı Atay nannte diese Praxis seines Chefs „völlig üblich“, denn für Talaat galten „Lügen und Ungerechtigkeit keineswegs als unmoralisch.“ Aber Taalat war nicht der einzige Schwindler. „Die Praxis, Telegramme durch Geheimbefehle wieder aufzuheben“, schreibt Akçam, „war unter osmanischen Verwaltungsbeamten weitverbreitet.“ Der deutsche Stabchef der türkischen Armee, Hans von Seeckt, machte es sich zur Regel, zwischen offiziellen Befehlen und geheimen Instruktionen zu unterscheiden, wobei Andeutungen und Schlüssel ergaben, was gültig war und was nicht. [170]

Die Rolle der Armee beim Genozid:

„Eine entscheidende Frag ist“, so Akçam, „ob die reguläre Armee an den Tötungsaktionen teilnahm oder nicht.“ Und gibt selbst die Antwort: „Es scheint so zu sein, daß eine zentrale Entscheidung vorlag, wonach die reguläre Armee nicht [am Genozid] teilnehmen sollte.“ Tatsächlich gab es mehrere Befehle, die den Militärs eine Teilnahme untersagte. Das galt nicht für die dem Innenministerium unterstellte Gendarmerie, die sich oft an der Seite der Spezialorgansiation an den Mordkommandos beteiligte. [171]

Doch trotz der Befehlte nahmen besonders Einheiten der Dritten Armee an Tötungsaktionen teil. Kurz nach dem Van-Aufstand wurden Zivilisten in Bitlis und Musch von Armeeeinheiten abgeschlachtet. Kâmil Pascha, Oberkommandierender der Dritten Armee, gab Befehle heraus, nach denen Muslime, die Armenier beschützten, vor ihrem Haus hingerichtet werden müßten. Wenn Militärs sich für Armenier einsetzten, kamen sie wegen Aufsässigkeit vor ein Militärgericht. Und er gab auch direkte Vernichtungsbefehle, von denen einer vor Gericht nachgewiesen wurde. [172]

Ein weiterer General, der direkt Mordaktionen anordnete, war Halil Kut Pascha, Envers Onkel. Er ließ alle armenischen Soldaten in seinem Kommando liquidieren, nach deutschen Angaben auch alle syrisch-othodoxen. [173]

Ali Ihsan Sabis, der Kommandant der 6. Armee, hat, so der deutsche Botschaftsprediger Graf Lüttichau, „es unzählige Male geflissentlich vor deutschen Ohren ausgesprochen, dass er in den Grenzen seines Befehlsbereiches nicht dulden werde, dass ein Armenier am Leben bliebe. Deutschen Offizieren gegenüber rühmte er sich, mit eigener Hand Armenier getötet zu haben.“ [173]


Der Genozid:

Taner Akçam faßt nunmehr die aus vielen Berichten bereits bekannten Vorgehensweisen bei den Deportationen und Tötungen zusammen. Die für den Abtransport gesetzten Fristen von zwei Tagen bis zwei Wochen, die immer unterschritten wurden, die Einkerkerung von einflußreichen Männern und ihre Folterungen, die Absprachen mit der Spezialorganisation oder Kurdenstämmen über Tötungsaktionen, die Trennung der Frauen von den Männern, die zumeist gleich getötet wurden. [174]

Akçam beschreibt auch die Doppeldeutigkeit der Behandlung von Konvertiten - erst erlaubt, dann wieder zurückgenommen -, sowie die der Protestanten und Katholiken, die angeblich verschont, in Wahrheit aber in fast ebenso großer Anzahl deportiert und getötet wurden wie die apostolisch-gregorianischen Armenier, für die sich keine ausländische Macht einsetzte. Nur kleine protestantische und katholische Minderheiten überlebten - zumeist als direkte Zöglinge amerikanischer, deutscher oder österreichischer Missionen. [175-178]

In einem Brief des Generalstabs an das Büro des Großwesirs war festgelegt worden, daß die Ansiedlung der Armenier auf fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung der Region begrenzt sein müsse. Viele Forscher hielten diese Bestimmung für einen Verschleierungsversuch. Tatsächlich aber gab es ihn, und zwar für alle Minderheiten, christliche wie muslimische. Auch in syrischen und irakischen Regionen sollten die Armenier nie zehn Prozent der Bevölkerung überschreiten. In der Region und Stadt Der Zor, dem üblichen Zielort der Deportationszüge in die mesopotamische Wüste, war das 1916 permanent der Fall mit der Folge, daß die Behörden die Tötung der neuankommenden Armenier anordneten, die dann oft den Chaburfluß entlang geführt und dort zu Hunderttausenden ermordet wurden. [178]

Viele Kurden aber auch Türken beteiligten sich an den Plünderungen der deportierten Armenier, aber viele protestierten auch gegen die Behandlung der Armenier. Die Kurden - wahrscheinlich in erster Linie aus dem Dersim - sollten 20000 bis 30000 Armenier gerettet haben, aber oft hetzten die Irregulären der Spezialorganisation auch kurdische Stämme auf die deportierten Armenier. Gendarmen beteiligten sich ebenfalls oft an den Ausschreitungen gegen die Armenier, aber einige beschützten sie auch. In einem Fall waren es dieselben Gendarmen, die erst beschützten und dann mordeten. [179-181]

Eine Besonderheit in Trabzon war, daß viele Armenier - auch Frauen und Kinder - in Boote geladen und auf offener See erschossen oder schlicht über Bord geworfen wurden. Mehmet Emin bey, der Abgeordnete von Trabzon bezeugte nicht nur diesen Vorgang vor Gericht, sondern sagte ebenfalls aus: „Im Ordu-Distrikt lud der Präfekt die Armenier ostentativ auf Boote, die sie nach Samsun bringen sollten, und warf sie dann über Bord.“ [181]

Die Deportationen aus den östlichen Provinzen fanden im Mai und Juni 1915 statt, sodann folgten die Deportationen der Armenier aus Zentralanatolien und Thrakien. Ihre erste Station war Aleppo. Wer diese Transporte überlebte, mußte sich in Konzentrationslager einpferchen lassen, „deren sanitäre und humanitären Bedingungen sie zu Todeslager machten“, wie Akçam schreibt. Wer auch diese Strapazen überlebte, fand seinen Tod in den Wüsten Syriens oder Mesopotamiens. [182]

Sofort nach der Deportation der Armenier und manchmal schon zuvor wurden muslimische Flüchtlinge in die Häuser der Armenier eingewiesen. Deutschlands Konsul in Erzurum, Scheubner-Richter, sah in diesen Einquartierungen einen möglichen Grund für die Deportationen. Diese sofortigen Zuweisungen der Flüchtlinge „widerlegt das oft vorgebrachte Argument“, so Akçam, „die Deportationen seien eine vorübergehende Kriegsmaßnahme. Tatsächlich wußten sie, daß die Armenier niemals zurückkehren würden.“ [182/83]

Kaum ein Faktum wird so streitig diskutiert wie die Zahl der Überlebenden der Deportierten (150000 bis 200000), die der von Türken aufgenommenen Frauen und Kinder (um die 200000) und vor allem die der umgebrachten Armenier ( 600000 bis 1,5 Millionen). Aber es gibt auch offizielle Zahlen. Am 18. März 1919 gab der osmanische Innenminister die Zahl der deportierten Armenier mit 800000 an, doch nach vielen Protesten revidierte er die Zahl. Mustafa Kemal wie auch Großwesir Damat Ferit Pascha blieben allerdings bei der Zahl von 800000 getöteten Armeniern - ebenfalls der türkische Generalstab 1928 in einem Buch über die Kriegsverluste. Selbst der Doyen der türkischen Historiker, Yusuf Hikmet Bayur, hält an ihr fest. [183]

Deportation oder Vernichtung? Die Behandlung der Deportierten.

Als die Jungtürkenpartei sich im November 1918 auflöste, legte Talaat die „offizielle türkische Version“ der Deportationen und Tötungen für die Zukunft fest. „Es gab manche Zwischenfälle während der Deportationen“, führte er aus. „Aber in keinem von ihnen agierte die Hohe Pforte nach einer vorgefaßten Entscheidung. An vielen Orten brachen langanhaltende Feindschaften aus und führten zu Mißbräuchen, die wir niemals vorhatten. Viele Beamte machten sich exzessiver Ungerechtigkeiten schuldig und verübten Gewalttaten. An manchen Orten wurden zahllose unschuldige Leute getötet. Das muß ich zugeben.“ [184]

„Das ist seither die türkische Position“, schreibt Akçam, „doch gab es einige unübersehbare Unstimmigkeiten. So sollten die Armenier aus Kriegszonen entfernt werden, wo sie eine Gefahr darstellten, wurden dann aber aus Zonen verschleppt, die weitab von Kriegszonen lagen und in Zonen deportiert, die unmittelbares Kriegsbiete waren. Ferner war nirgendwo Vorsorge getroffen worden für eine derartige Menschenverschiebung. Diese beiden Fakten allein genügen schon, um zu beweisen, daß das Ziel der Maßnahmen eine bewußte Vernichtung war. [184]

Aber es gab noch mehrere Unstimmigkeiten: So durfte keinem Deportierten geholfen werden. Deutsche wie Amerikaner hatten Hilfen angeboten, die abgelehnt wurden. Cemal gab sogar schriftlich zu, solche und andere Hilfen auf Befehl Istanbuls ablehnen zu müssen. Der Tscherkesse Hasan Bey wurde zum Nachfolger des Verantwortlichen für die Ansiedlung der Armenier in der Region, Hüseyin Kâzim, ernannt. Die Beamten hießen ihn willkommen und hofften, daß er nun endlich die letzten Armenier beseitigen würde. Er fragte bei Cemal Pascha nach, der ihn aufforderte, eine „humane Deportation“ durchzuführen. „Aber diese humane Deportation wurde als Verräterei angesehen“, schreibt Akçam. Der Innenminister setzte Hasan wieder ab und warnte Cemal, nicht in die Angelegenheiten der zivilen Stellen einzugreifen. In einem Befehl vom 12. Juli 1915 an den Gouverneur von Diyarbakir protestierte Talaat gegen die Tötung von Christen, nahm aber ausdrücklich die Armenier von diesem Protest davon aus. [185/87]

„Die genozidale Absicht der Regierung wird klar“, schreibt Akçam, „wenn wir uns den Verbleib des armenischen Eigentums ansehen.“ Zwar gab es mehrere Gesetze, die scheinbar armenisches Eigentum schützen, doch keineswegs, um es an die Besitzer zurückzugeben. Es sollte an Siedler verteilt werden oder an die Regierung übergehen. „Trotz eines Dutzend von Dokumenten, die den Gebraucht von armenischem Eigentum regelten“, schreibt Akçam, „gibt es nicht einen Beweis, daß irgendeinem Deportierten eine Kompensation gewährt wurde.“ Selbst die Dekrete der Nachkriegsregierung führten nirgendwo dazu, den überlebenden Armeniern ihr Eigentum zurückzugeben. [189]

Akçam klassiert die Regelung des armenischen Eigentums in fünf Kategorien, wofür er jedesmal mehrere Dekrete zitiert: 1. Große Teile des armenischen Eigentums wurden an Muslime oder muslimische Gesellschaften übertragen, gegen geringe und manchmal sogar ohne jedwede Bezahlung. Das Ziel war es, den muslimischen Handel anzukurbeln. 2. Das Eigentum wurde an muslimische Flüchtlinge verteilt. 3. Eines der wichtigsten Ziele war, das armenische wie auch griechisches Eigentum den bewaffneten Kräften zugute kommen zu lassen. 4. Die Kosten der Deportation - Gendarmeriegehälter beispielsweise - sollten mit armenischen Geldern bestritten werden. 5. Armenische Gebäude wurden dem Staat übereignet, um darin Kliniken oder auch Gefängnisse zu errichten [190/193]

Die Dokumentation

In mehreren Prozessen wurde festgestellt, daß wohl die meisten wenn nicht alle Dokumente sowohl der Spezialorganisation als auch des CUP-Zentralkomitees verschwunden bzw. zerstört worden sind. Die Zerstörung des Archivs der Spezialorganisation hatte Großwesir Izzet Pascha am 14. Oktober 1918 angeordnet, die ZK-Dokumente hatte Dr. Nâzim selbst an sich genommen. Postminister Hüseyin Hasim hatte auf Befehl des Kriegsministeriums die Verbrennung aller militärischen Originaldokumente angeordnet. Und auch Talaat soll einen Koffer voller Papiere in das Haus eines Freundes geschafft und dort verbrannt haben. So sind nur wenige Dokumente erhalten, die im Regierungsanzeiger veröffentlicht wurden - logischerweise die harmlosen. [193/94]

Die Rolle der armenischen Aufstände:

Für die türkische Historiographie sind die Deportationen eine logische Folge der Aktivitäten armenischer Revolutionäre, die vor allem von Rußland unterstützt worden seien. „Die Anwesenheit osmanischer Armenier und von Armeniern aus Europa und den USA in der russischen Armee“, schreibt Akçam, „machte auf die Jungtürken einen weit größeren Eindruck als es der militärischen Realität entsprach.“ Diese armenischen Einheiten überfielen in der Region Van durchaus muslimische Dörfer, aber auch armenische, wenn die ihnen die Unterstützung versagten. [196/97]

In mehreren Regionen - so in den Bergen um Erciş und Zeytun - bildeten sich armenische Banden, keineswegs immer gut gelitten von den einheimischen Armeniern. Sie bestanden hauptsächlich aus Deserteuren, deren Anzahl nach den türkischen Niederlagen im Frühjahr 1915 stark anstiegen - wie auch die der muslimischen Soldaten. Am 18. März berichtete der deutsche Konsul in Adana, daß praktisch alle Einwohner seiner Stadt Deserteure waren. Türkische Deserteure ließen auch schon mal die Regimentskoffer mitgehen. [198]

Es gab Dörfer, die sich gegen Banden ebenso wehrten wie gegen Angriffe von Soldaten. Kurdische Attacken wurden als armenische ausgegeben, was die kurdischen Dorfbewohner wiederum gegen die Armenier aufbrachte. Türkische Offiziere fotografierten ihre eigenen Waffen, um sie als erbeutete armenische auszugeben. „Einige Dinge - Aufstände und Waffenfunde -, die in türkischen Quellen angegeben werden, um die Deportationen zu rechtfertigen“, schreibt Akçam, „waren schlicht Erfindungen.“ So die Bewaffnung der armenischen Zivilisten in und um Erzurum, die sowohl vom deutschen Konsul als auch vom türkischen Generalgouverneur als unwahr bezeichnet wurden. [199]

Auch in Yozgat erfanden die türkischen Scharfmacher Erhebungen und Waffenfunde, die es nie gab, wie nach dem Krieg in den Prozessen herauskam. 200 türkische Offiziere wurden ausgeschickt, um die armenische Rebellion zu stoppen, die sich als wenige armenische Deserteuren entpuppte, die sich in ihren Häusern versteckt hatten. „Das gleiche gilt für alle armenischen ‚Aufstände’ in Anatolien“, schreibt Akçam. Aufstände wie in Şebinkarahisar oder Urfa waren reine Widerstandshandlungen der von Deportationen bedrohten Armenier. Der Aufstand von Van, bis heute als offizieller Vorwand für de Deportationen hingesellt, war weit mehr auf Provokationen der CUP zurückzuführen als auf kriegerische Absichten der Armenier, die von dem Organisator der Spezialorganisation, Ömer Naci, noch im August 1914 „als noch unterwürfiger als die von Erzurum“ hingestellt worden waren, und die Armenier von Erzurum hatten sich zu Beginn der Deportationen widerstandslos abführen lassen, wie deutsche Beobachter berichteten. [200/02]

„Eine Gesamtbetrachtung all dieser Berichte von Aufständen führt zu der Feststellung, daß die Armenier zumeist den Deportationsbefehlen ohne großen Widerstand gehorchten“, schreibt Akçam, „ein Augenzeuge, der die Massaker überlebte, stellte fest, daß ein Konvoi von zehntausend Armeniern von nur 20 Gendarmen bewacht worden war.“ Der amerikanische Konsul von Harput notierte, daß „die überraschendste Beobachtung die der armenischen Hilflosigkeit war sowie ihr fehlender Wille zum Widerstand“ war. [202]

Akçam wundert sich wie fast alle seriösen Autoren, daß diese Argumente in den meisten türkischen Werken benutzt werden, um den Tod von 800000 Zivilisten zu rechtfertigen. „Keine Aktion von Banden oder Individuen kann den Tod von 800000 Menschen rechtfertigen“. Genau diese Linie aber verfolgt die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei bis heute. Akçam dazu: „Der Versuch, den Tod einer ganzen Nation mit Frauen und Kindern, Alten und Kranken zu rechtfertigen und zu rationalisieren, muß seinerseits als ein Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet werden.“ [202/03]

Taner Akçam resümiert die türkische Scheinbegründung so: „Das Problem der Jungtürken waren nicht die armenischen Banden oder ein armenischer Aufstand, sondern die Tatsache, daß die Armenier überhaupt in den östlichen Provinzen lebten.“ Um einen möglichen Staat Armenien in Ostanatolien zu verhindern, mußten die Armenier ermordet werden. Das war die Quintessenz eines Telegramms vom 29. August 1915 des türkischen Innenministeriums an alle osmanischen Provinzen: „Das Ziel der Regierung ist, durch die Deportation der Armenier sie davon abzuhalten, durch irgendeine nationalen Aktion eine armenische Regierung zu bilden.“ [204]


Teil III: Die Untersuchungen des Genozids und die Anklagen gegen Kriegsverbrecher

Kapitel 6: Die Frage der Bestrafung der „Türken“.

Am 30. Oktober 1918 unterzeichneten Türken und die Entente den Waffenstillstandsvertrag von Mudros. Zum Jahresende ankerte eine Flotte von 67 britischen, 22 französischen, zehn italienischen und einem griechischen Kriegschiff vor dem Dolmabahçe-Palast in Istanbul. Am 8. Februar 1919 ritt der französische General Franchet d’Espérey auf einem weißen Roß ins Herz der Stadt Konstantinopel, wie 466 Jahre zuvor der osmanische Eroberer Sultan Mehmet II.

Schon vor dem Krieg hatten die Ententemächte - wie auch Deutschland - Pläne geschmiedet, wie das Osmanische Reich, wenn es denn zusammenbräche, wovon alle ausgingen, einmal aufzuteilen sei. Während des Krieges kam es zwischen den Entente-Mächten zu weiteren Vorverträgen vor allem für eine Aufteilung in Interessensphären.

1) Im „Vertrag von Istanbul“ (März-April 1915) überzeugte Rußland die Franzosen und Engländer, seine Rechte über die Meeresstraßen des Bosporus und der Dardanellen anzuerkennen.

2) Im Vertrag von London (26. April 1915) wurde Italien das Recht zugesprochen, im Falle einer Aufteilung Anatoliens Antalya zu besetzten.

3) In der Hussein-McMahon Korrespondenz (Juli 1915-März 1916) erhielten arabische Führer Waffen und Unterstützung für eine Revolte gegen die Osmanen sowie territoriale Zusagen in Mersin, Alexandria und großen Teilen Syriens.

4) Im Sykes-Picot-Abkommen (9. bis 16. Mai 1916) teilten sich Großbritannien und Frankreich mit russischer Zustimmung (das den Vertrag von Istanbul bestätigt bekam) arabische Territorien untereinander auf und versprachen die Schaffung eines arabischen Staates.

5) Im Vertrag von Saint Jean de Maurienne (1. April 1917) trat Italien praktisch dem Sykes-Picot-Vertrag bei und erhielt territoriale Zusagen, wenn Rußland zustimmt. Als sich die Russen nach der Oktoberrevolution von allen Verträgen und aus dem Osmanischen Reich zurückzogen, erklärten die Engländer den Vertrag für ungültig - mit der Konsequenz, daß dadurch Frankreich, England und Italien beim Friedensvertrag getrennte Wege gingen und die Italiener den türkischen Unabhängigkeitskampf nach Kriegsende unterstützen.

6) In der Balfour-Deklaration (Januar 1918) wurde den Juden in Palästina eine nationale Heimstatt versprochen.

7) Im Januar 1918 publizierten die Bolschewisten die Vereinbarungen von Istanbul und das Sykes-Picot-Abkommen, woraufhin der englische Premier Lloyd George den Türken Zusagen für den Erhalt der Hauptstadt und wichtiger Regionen machte.

8) Am 8. Januar 1918 veröffentlichte US-Präsident Wilson seine 14 Punkte für einen Friedensvertrag, dessen Punkt 11 der Türkei die türkisch-bewohnten Gebiete sicherte und die freie Schiffahrt durch die Meerengen garantierte.

9) Nach den vier Prinzipien vom 11. Februar 1918 garantierte Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch des Osmanischen Reichs.

10) Im Juni 1918 sicherte Großbritannien sieben arabischen Führern volle Unabhängigkeit zu. [209/11]

Durch diese verschiedenen Abkommen und den Rückzug der Sowjets zum Kriegsende hin „waren die Großmächte nicht mehr in der Lage, sich über die Teilung des osmanischen Territoriums zu verständigen“, wie Akçam schreibt. [211]

Dabei war die Vertreibung der Türken aus Europa und ihrer Hauptstadt fast 500 Jahre lang - seit dem Fall von Konstantinopel - ein europäisches Hauptanliegen. „Ich habe die Frage der Türken in Europa studiert“, sagte US-Präsident Wilson zu Beginn der Pariser Friedenskonferenz, „und mir wurde jedes Jahr klarer, daß sie rausgeworfen werden sollten.“ [212]

Kaum ein Ereignis konnte diesem Ziel besser dienen als der Völkermord an den Armeniern. Als der sich abzeichnete, im April 1915, war Rußlands Außenminister Sergei D. Sasonow
in London und Paris. Er initiierte den Brief vom 24. Mai 1915 an die Osmanen, in dem er die Bestrafung der Verantwortlichen forderte - im ersten Entwurf wegen „Verbrechen gegen die Christenheit und Zivilisation“, schließlich geändert in „Verbrechen gegen die Menschheit“. Damit war einer der wichtigsten Anklagepunkte eines neuen internationalen Strafrechts geboren. Historiker Toynbee vermutete hingegen, daß die Russen damit von der Vertreibung von 800000 Polen aus den Kriegszonen in Polen und Litauen ablenken wollten. [213/14]

Als der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau das Schreiben dem osmanischen Großwesir Said Halim am 3. Juni überbrachte, war der Effekt gleich null. Die Türken und ihre deutschen Verbündeten einigten sich schnell darauf, daß die Deportationen innertürkische Angelegenheiten seien und außerdem die Entente-Mächte selbst die Verantwortung dafür trügen, denn sie hätte die Armenier zur Revolte angestachelt. [214]

Die Bestrafung der türkischen Verantwortlichen für den Völkermord an den Christen, hauptsächlich an den Armeniern, bekam sehr schnell den Wert eines Kriegsziels an sich, hauptsächlich für die Briten, aber auch für Franzosen und Amerikaner. „Die Bestrafung der Verantwortlichen für die armenischen Greuel“, schriebt der britische Admiral Webb, stellvertretender Hochkommissar in Istanbul, „heißt alle Türken zu bestrafen.“ [216]

Die türkische Haltung zur Bestrafung der jungtürkischen Kriegsverbrecher:

In der unmittelbaren Nachkriegs-Türkei gab es zwei Machtzentren. In Ankara bildete sich eine zumeist von Jungtürken gegründeten nationalistischen Bewegung; in Istanbul herrschten der Sultan und weitgehend die Gegner der CUP aus der Kriegszeit. Beide Zentren arbeiteten manchmal gegen-, manchmal miteinander. Für eine Bestrafung der Verantwortlichen des Völkermords waren beide - zumindest zu Anfang. Denn sie erhofften sich dadurch bessere Bedingungen für einen Friedensvertrag. Allerdings waren auch beide Zentren gegen ein Auseinanderbrechen der Türkei. „Als die Alliierten auf der Pariser Konferenz die Bestrafung der Verantwortlichen und die Teilung des Landes als eine einheitliche Forderung aufstellten“, schreibt Akçam, „verschwand der anfängliche Goodwill der Türken. [217]

Auf ihrem Kongreß in Sivas vom 4 bis 11 September 1919 wählten die Nationalisten einen repräsentativen Rat, dem Mustafa Kemal (Atatürk) vorstand. Der akzeptierte schließlich, daß es eine Fraktion unter den Jungtürken gab, die das Land durch ihr Mißmanagement und ihre Ausbeutung ruiniert hätten und für Ihre Verbrechen verantwortlich seien. Eine Verantwortung für den Krieg an sich, wie von den Alliierten gefordert, lehnte er strikt ab. [219]

Beide Zentren schlossen fünf Abkommen ab, von denen zwei geheim blieben. Im ersten und öffentlichen Abkommen wird in Artikel 4 verlangt, es sei „für die Justiz und die Politik unbedingt nötig die rechtmäßige Bestrafung jener, die während der Deportation Verbrechen begangen haben.“ Doch als die Alliierten die Aufteilung Anatoliens verlangten, sahen beide Zentren das als eine Art Todesstrafe an - und von nun an wurde auch die Verfolgung von Kriegsverbrechern „ein wichtiger Teil der nationalistischen Politik“, wie Akçam schreibt. [220/21]

Versuche der Alliierten, die osmanischen Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen:

Auf der Pariser Friedenskonferenz wurden Vorschläge für einen internationalen Strafgerichtshof gemacht, die zu nichts führten. Die Versuche verschiedener osmanischer Regierungen, ihre eigenen Verbrecher vor Gericht zu bringen, waren zumindest teilweise erfolgreich. Am meisten brachten die Initiativen der britischen Besatzungsmächte in Istanbul. [221]

Der erstmals formulierte Straftatbestand von „Verbrechen gegen die Menschheit“ war ein formaler Fortschritt, kam aber erst bei den Nürnberger Prozessen von 1946 zur Anwendung und wurde fortan von der UNO weiterentwickelt. Aber auch Einzelstaaten nahmen diese Formel in ihre nationale Jurisprudenz auf, so Deutschland, Israel, Kanada, Australien, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. [221/22]

Die Lage des internationalen Rechts vor 1919:

Die existierenden Konventionen (wie die von Den Haag 1899 und 1907) behandelten immer nur Aktionen eines Staates gegen einen anderen, nichts jedoch Kriege gegen die eigenen Bürger. Allerdings erlaubten sie Strafaktionen, wenn eigene Bürger Widerstand leisteten - von den Großmächten gedacht für ihre Kolonien. Persönliche Verantwortung für Übergriffe galt ferner nur für Soldaten und Offiziere, nicht für politische Führer. [222-24]

Zwar hatte auch das Osmanische Reich internationale Verträge abgeschlossen, vom Pariser Vertag 1856 bis zum Vertrag von Yeniköy mit Rußland, in dem den Armeniern die ausgehandelten Reformen zugesagt wurden, diese Verträge jedoch erklärten die Jungtürken für ungültig - sofort nach Kriegseintritt den von Yeniköy, am 5. September 1916 schließlich die anderen vom Pariser Vertrag 1856 bis zum Berliner 1878. [225]

Beim Pariser Friedensvertrag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verfolgte jede der Großmächte andere Interessen. Die Briten verfolgten die härteste Politik, aber hauptsächlich gegenüber Deutschland und Österreich-Ungarn. Von der Türkei wollten sie vor allem die Bolschewisten fernhalten, deshalb wurden auch die türkische Armee intakt gelassen und die politischen Führer geschont. England wollte vor allem Landgewinne, um die Wege nach Indien sichern. Dazu wollte es Palästina unter britischer Kontrolle behalten, die griechische Präsenz auf dem Indienweg stärken und einen armenischen Staat als Barriere gegen eine russische Expansion. „Den armenischen Staat unter amerikanisches Mandat zu stellen“, schreibt Akçam, „war Großbritanniens großer Traum.“ [226]

Über die Zukunft von Istanbul kamen sich die britischen Unterhändler untereinander in die Haare. Das Kriegsministerium samt Indian Office war dagegen, weil ein türkischer Aufruhr die indischen Muslime aufreizen würde. Das Außenministerium hingegen wollte Istanbul türkischer Herrschaft entziehen, zog sich aber auf eine internationale Verwaltung ohne Beteiligung der Türken zurück, als klar wurde, daß die Amerikaner ein Mandat über das zu schaffende Armenien ablehnen würden. [226]

Frankreich ging es vor allem um eine Eindämmung Deutschlands, weshalb es zu territorialen Konzessionen gegenüber den Briten im arabischen Teil des Osmanischen Reichs bereit war. Italien bestand auf der zugesprochenen Besatzungszone in Westanatolien. Als den Griechen am 30. März 1919 die Landung in Izmir erlaubt wurde, unterstützten die Italiener die Türken, erst in ihrer Besatzungszone, dann in ganz Anatolien. [227]

Die Vereinigten Staaten hatten mit der Türkei nie im Krieg gestanden und Präsident Wilson hatte in Punkt 12 seiner 14 Punkte eine türkische Souveränität in jenen Regionen befürwortet, in denen die Türken die Mehrheit stellten. Mal sprach sich Wilson dafür aus, Nordanatolien Frankreich zu unterstellen und einen türkischen Staat um Konia zu gründen, dann fand er wiederum, es sei ein Fehler, die Türkei überhaupt unter fremdes Mandat zu stellen. So kam kein Teilungsplan zustande. Der Völkermord an den Armeniern verschwand bei diesen internen Kämpfen immer mehr von der Tagesordnung. Akçam: „Die Hauptsorge der Großmächte waren ihre eigenen Interessen und nicht die Verfolgung von Kriegsverbrechern.“ [228]

Aber England und Frankreich hatten sich nach dem Bekanntwerden der Armenier-Massaker für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit stark gemacht, besonders für die internationale Aburteilung des deutschen Kaisers, die ein Hauptthema des britischen Wahlkampfs von 1918 war. Frankreich und England bestanden auf einem solchen Tribunal gegen Wilhelm II, aber ihre eigenen Experten machten klar, daß der Beginn eines „Angriffskriegs“ und die Verletzung der belgischen Souveränität nicht als Verbrechen im internationalen Recht kodifiziert waren. [229]

Die fünf Großmächte setzten eine Kommission ein, die die Schuld Deutschlands am Krieg feststellte und zwei Begriff kreierte, die in Zukunft eine Rolle spielen sollten: „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschheit“ - aber beide Begriffe waren noch nicht justiziabel. Für den Völkermord an den Armeniern einigten sich die Experten auf die humanitären Prinzipien der Haager Konvention, doch das waren ethische Prinzipien, deren legale Anwendung vor einem Gericht noch nicht kodifiziert war - ebensowenig, wie ein dafür notwendiges Gericht existierte. Doch sollten die Begriffe „Verbrechen gegen die Menschheit“ oder „Gesetze der Menschheit“ in die Verträge von Sèvres über die Türkei eingehen. [230/31]

Allerdings konnten solche Taten, selbst wenn sie in einen legalen Rahmen gebracht würden, nach westlichem Selbstverständnis nicht rückwirkend angewendet werden. So einigten sich die Konferenzteilnehmer, die Täter nicht für „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu verfolgen, sondern für „Verbrechen gegen das Kriegsgesetzt“, was halbwegs durch die Haager Konvention von 1907 gedeckt war. Folglich mußte derlei Prozesse vor Kriegsgerichten geführt werden. Sowohl im Versailler Vertrag für Deutschland als auch im Vertrag von Sèvres für das Osmanische Reich wurden Passagen aufgenommen, die eine Verfolgung von Kriegsverbrechern vorsah. [232]

In den Artikeln 228 und 230 des Sèvres-Vertrags verpflichteten sich die Türken, jene Personen vor Gericht zu stellen, die für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich waren und die Dokumente herbeizuschaffen, die zur Aufklärung notwendig waren. Allerdings war den Alliierten inzwischen bewußt geworden, daß sich die politischen Bedingungen in der Türkei entscheidend geändert hatten. „Es war allen weitgehend klar“, schreibt Akçam, „daß der Sèvres-Vertrag durch den Konflikt zwischen den Alliierten und dem türkischen Unabhängigkeitskrieg eine Totgeburt war.“ [233]

Britische Initiativen zur Bestrafung der Türken:

Um doch zu einer Aburteilung von Kriegsverbrechern in der Türkei zu kommen, gingen die Briten eigene Wege, „ein Gefühl von Schuld und Verpflichtung gegenüber den Armeniern“, so Akçam, „war für die Briten einer der wichtigsten Gründe“ für diesen Schritt. Sie fühlten sich schuldig, die Kontrolle der Armenier nach dem Berliner Vertrag wieder den Türken gegeben - und den Russen genommen - zu haben, wodurch die Massaker von 1894 bis 1896 und der Völkermord 1915 bis 1917 erst möglich geworden war, so Premier Lloyd George in seinen Memoiren zur Pariser Konferenz. In einer Debatte am 18. November 1918 im britischen Unterhaus waren sich alle darüber einig, daß ohne den Rückzug der Briten aus der Verantwortung [im Berliner Vertrag von 1878] die Greuel gegen die Armenier nicht stattgefunden hätten. Noch weiter ging die britische Presse, die sich dafür einsetzte, daß die armenischen Gebietsteile nie wieder unter türkische Herrschaft fallen dürften. [234/35]

In den ersten Monaten nach dem Waffenstillstand nahmen sich die Briten die türkischen Spitzenmilitärs vor, denen auch die Mißhandlung britischer Kriegsgefangener vorgehalten wurde. Alle Armeebestände an Nahrungsmitteln wurden als armenisches Eigentum bezeichnet und türkische Offiziere verhaftet, die es sich aneignen wollten. Seit Januar 1919 verhafteten die Briten dann auch einige hohen Zivilpersonen, die sie in Malta internierten. Dabei war den Briten klar, daß sie nicht in der Lage waren, gegen alle Schuldigen vorzugehen, im Vordergrund stand, den Türken mehr Respekt vor den Armeniern beizubringen, denn die weiterhin aggressive Art vieler Türken gegen Armenier hatte sie sehr aufgebracht. [236]

Am 5. Februar 1919 erhielt der britische Hochkommissar eine Liste mit sieben Kategorien von Verbrechen, deren Täter festgenommen werden sollten. Türkische Offiziere, die sich an britischen Gefangenen vergangen hatten, sollten vor britische Militärgerichte gestellt werden, was die als völlig unehrenhaft ansahen und sogar mit einer Meuterei drohten. Frankreich stellte sich insofern auf die Seite der Türken, als sie Verhaftung und Verurteilung von Türken in den nicht besetzten Zonen den türkischen Gerichten überlassen wollte. Daraufhin beschränkten sich auch die Briten darauf, den osmanischen Behörden Listen von Verdächtigen zu geben, deren Verfolgung sie wünschten. [238/39]

Am 5. März 1919 übergaben die Briten dem neuen Großwesir Damat Ferid Pascha eine weitere Liste und erinnerten an die Worte des Sultans: „Ich bin bereit jeden verhaften zu lassen, den Sie wünschen.“ Schon vier Tage später verhaftete die osmanische Regierung 22 CUP-Mitglieder - sie kamen allerdings nur in türkische Gefängnisse. [239].

Die Türken schlugen vor, daß im Krieg neutrale Länder Experten für eine Untersuchungskommission abstellten, die beurteilen sollten, was in der Türkei mit Muslimen und Nicht-Muslimen geschehen sei. Doch die Briten unterbanden dieses Vorhaben und wollten die Pariser Friedens-Konferenz in dieses Problem einbinden. Am 2. April legten die Briten der Konferenz ihre Entscheidung vor: türkische Verdächtige für Kriegsverbrechen könnten nicht vor britischen Gerichten abgeurteilt werden, die Konferenz solle ein internationales Tribunal bestellen. Doch die Konferenz bewegte sich in dieser Frage nicht. [240]

Während britische Rechtsexperten Kriterien ausarbeiteten, welche Straftaten von britischen Militärgerichten abgeurteilt werden könnten - Beleidigung britischer Offiziere in den Besatzungszonen - , blieben die meisten Übeltäter des Völkermord auf Malta unbehelligt, wenn sie sich nicht sogar in der unbesetzten Zone aufhielten, wo sich die politischen Verhältnisse laufend zu ihren Gunsten änderten. [241/42]

Kapitel 7: Die Initiativen der osmanischen Regierung.

Das Kabinett Talaat war am 8. Oktober 1918 zurückgetreten, die wichtigsten jungtürkischen Politiker jedoch flohen, vor allem aus Furcht, für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich gemacht zu werden, wie einer der schlimmsten von ihnen, Dr. Nâzim, später zugab. [243]

Talaat ging es aber auch darum, daß die Macht in den Händen jener bliebe, die sein politisches Konzept teilten. So war auch sein direkten Nachfolger ein Kandidat von ihm: der General Izzet Pascha. Zwar wurde den regierenden Türken nach dem Waffenstillstand klar, daß sie sich von den Verantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern trennen müßten, wollten sie günstige Bedingungen auf der Friedenskonferenz erreichen, doch selbst noch in seinen viele Jahr später erschienenen Memoiren beschrieb Izzet die Jungtürken in den hellsten Farben. [243/44]

Nicht nur das. Er hatte das Kriegsministerium übernommen und ließ nicht nur alle Akten der Spezialorganisation verschwinden, sondern auch andere diskriminierende Dokumente. Er sorgte nicht nur dafür, daß die schwersten Mittäter wie Enver auch im Ausland einen besonderen Schutz erhielten, sondern auch dafür, daß die am meisten mit den Armeniermorden belasteten Jungtürken die Hauptstadt verlassen konnten und so in die nichtbesetzte Provinz flüchten konnten. [244]

Die Folgeregierungen unter Tevfik Pascha mußten mehr auf die Wünsche der Besatzer, aber auch auf eine gegen die Flüchtenden gerichtete Stimmung im eigenen Land Rücksicht nehmen. Das Mustafa Kemal nahestehende Blatt „Minber“ nannte den Völkermord an den Armeniern „den schlimmsten und am wenigsten verzeihbaren Akt in der Geschichte“. Zeitungen brachten Listen der größten Armeniermörder und teilten auch mit, daß die sich immer noch in Istanbul aufhielten. Mehrere Zeitungen forderten die Hinrichtung der Verantwortlichen, und als einer der grausamsten Armeniermörder, Dr. Reşit Bey, am 25. Januar 1919 aus dem Gefängnis entkommen konnte, marschierte nach einem Aufruf der Oppositionspartei Hürriyet ve Itilaf, deren Vorsitzender Prinz Damat Ferid Pascha war, eine große Menschenmenge zum Regierungssitz. [245/46]

Debatten im osmanischen Parlament.

Nicht nur die Presse, auch die im Krieg praktisch lahmgelegten Parlamentarier meldeten sich zu Wort. Der türkische Abgeordnete von Trabzon, Mehmet Emin Bey forderte eine Verurteilung der Verantwortlichen für die Massaker und Morde, damit nicht das ganze Land darunter leid. „Die Nation ist unschuldig“, sagte er, „aber diese Unschuld muß vor dem Urteil der Geschichte sichtbar werden, indem andere ihre verdiente Bestrafung bekommen.“ [248/49]

Die „provisorischen“ Gesetze über die Deportation und den Verkauf armenischen Eigentums wurden aufgehoben. Doch weder wurde der noch immer präsidierende Halil Menteşe abgewählt, noch eine Auflösung der Kammer beschlossen. Immerhin stimmte eine Mehrheit einem Zehn-Punkte-Vorschlag des Abgeordneten Fuat Bey zu, frühere Mitglieder der Regierung vor den Obersten Gerichtshof anzuklagen. „Es war dieser akzeptierte Vorschlag“, so Taner Akçam, „der den Weg für die erste Untersuchungs-Kommission zum Genozid ebnete.“ [250]

Der griechischstämmige Abgeordnete Emanuelidi Efendi sprach ausdrücklich von einer Million Armeniern, die nur getötet wurden, weil sie Armenier waren, von 250000 Griechen, die seit 400 Jahren im Land lebten und ausgewiesen wurden, von 550000 Griechen, die nach dem Krieg auf See und zu Lande getötet wurden, sowie von 250000 Soldaten, die in Arbeitsbataillonen zugrunde gingen. Solche Dinge dürften nie wieder passieren, könnten aber nicht verhindert werden, wenn nur ein paar Leute abgeurteilt würden. Denn es seien nicht drei oder vier Leute verantwortlich für dieses Desaster gewesen, „sondern ein mächtiger Strom, der diese Taten durchgeführt hat“. Die Regierung werde dafür sorgen, daß derartige Dinge nicht wieder vorkämen, war die Antwort, und jeder, der in die Sache verwickelt sei, werde bestraft. [250/51]

Die von Taner Akçam in großer Ausführlichkeit wiedergegebene Parlamentsaussprache zeigt einmal mehr die ganze Spannweite der Argumentation besonders zwischen den nicht-muslimischen und den türkischen Abgeordneten, die bis heute anhält. Die wenigen armenischen, griechischen und arabischen Parlamentarier gaben jene Version der Ereignisse, die heute weltweit anerkannt und von der türkischen Regierung abwertend als „armenische Version“ bezeichnet wird, die meisten türkischen Abgeordneten, einige von ihnen in die Völkermordhandlungen selbst verwickelt, stellten jene Version in den Vordergrund, die heute noch offiziell gilt und von der übrigen Welt immer offener mit völligem Unverständnis zur Kenntnis genommen wird. Einer der damaligen türkischen Parlamentarier, Mehmet Emin Bey aus Mosul sagte: „Obgleich wir es unterlassen haben, den Angreifer zu verfluchen und unsere Sympathie mit den Angegriffenen kundgetan haben, … gibt es jene, die diese Kalamität dem Türkentum als ganzes anzulasten wünschen…. Ich weise dies im Namen des hohen moralischen Charakters meiner Nation zurück.“ Taner Akçam kommentiert diesen Redeauszug: „Emin Bey’s Rede ist typisch für eine bestimmte Mentalität, die damals unter Türken vorherrschend war. Er hebt die Toleranz des türkischen Volkes hervor und sieht die Nation „stark wir ein Bulle, unschuldig wie ein Lamm … und gnädig.“ [257]

Akcams Fazit über die ganze Parlamentsperiode: „Die wichtigsten Angelegenheiten waren die Debatten über die griechischen und armenischen Deportationen und die Bestrafung der schuldigen Parteien. Aber abgesehen von dem Zehn-Punkte-Vorschlag des abgeordneten Fuat Bey, die zu Vernehmungen durch die 5. Abteilung des Parlaments führten, wurden keine konkreten Ergebnisse erzielt. Hauptsächlich der Präsident der Kammer, Halil Menteşe und sein Assistent, der jungtürkische Propagandist und Journalist Hüseyin Cahit Yalçın arbeiteten mit dem Regime, um eine Diskussion über diese Angelegenheiten zu verhindern. Ihre Taktik schloß die Weigerung ein, Vorschläge und Eingaben von armenischen und griechischen Abgeordneten zu lesen, diesen Parlamentariern kein Forum zu geben und sie fortwährend zu unterbrechen, wenn sie sprachen.“ [261]

Die Untersuchungen der fünften Abteilung begannen am 9. November 1918 mit dem Verhör des früheren Großwesirs Said Halim Pascha und wurden am 14. Dezember beendet. Da das Parlament in dieser Zeit geschlossen war, konnte kein Beschluß gefaßt werden. Immerhin gaben die Befragungen Auskunft darüber, wie das Kriegskabinett gearbeitet hat, insbesondere in den zwei dringenden Fragen des Kriegseintritts und der Tötung der Armenier. Es wurde klar, daß die Entscheidung zum Kriegseintritt ohne Kenntnis aller Kabinettsmitglieder getroffen wurde. Auch von den Deportationen hätten die meisten Minister kaum etwas gewußt. Großwesir Said Halim argumentierte, der Kriegsminister und die Armee hätten in den Armeniern der Kriegszonen eine Gefahr gesehen und sie deshalb herausschaffen wollen, wofür ein Gesetzt notwendig war, das er ausfertigen ließ. Die Durchführung sei eine Katastrophe gewesen, doch nicht das von ihm zu verantwortende Gesetz. [264]

Zwar habe das Parlament eine Untersuchungskommission in die Gebiete geschickt, als das Kriegsministerium über Hintergründe berichtet habe. Aber Talaat als Innenminister habe die Diskussion der Ergebnisse verhindert. Außerdem seien manche Kommissionsmitglieder gar nicht in die fraglichen Gebiete gereist. Selbst von der Ermordung des armenischen Abgeordneten Zöhravi (Zohrab) habe er erst hinterher erfahren, behauptete der Regierungschef und Nachfragen von ihm blieben unbeantwortet. Die Spezialorganisation sei nicht Angelegenheit der Regierung gewesen, über sie habe er erst erfahren, „als alles beendet war“. Bei aller Vorsicht, was die Aussagen von Said Halim angehe, sagt Taner Akçam, „können wir sicher sein, daß die CUP die Regierung weitgehend umging.“ [265]

Bedeutender als die Ausreden des Großwesirs waren die Antworten des früheren Justizministers Ibrahim Bey, denn sie besagen klar, daß die Deportationen schon vor dem sie legitimierendem Gesetz begonnen hätten. „Unter Kriegsbedingungen verfügen die militärischen Verantwortlichen ein gewisses Maß an Autorität, wenn es um die Sicherheit der Armee ging. Das Deportationsgesetz wurde erst im Nachhinein erlassen.“ [265]

„Viele wurden aus Regionen deportiert“, gab Ibrahim Bey zu, „die nicht zum Kriegsgebiet gehörten. Und viele wurden an Orten hingerichtet, die nicht dem militärischen Sektor unterstanden.“ Hinrichtungen aber durften nur durch Militärgerichte angeordnet werden und Kabinett wie der Sultan persönlich mußten sie genehmigen, was nie geschah. Auch über die Freilassung von Strafgefangenen wurde der oberste Justizherr nicht informiert. Er beschwerte sich zwar, aber auch hier wurde schnell ein provisorisches Gesetzt gezimmert, das die Freilassungen nachträglich billigte. Nicht die Regierung regierte die Türkei, das ergaben die Befragungen, sondern andere - dunkle - Kräfte. [266]

Da das Parlament aufgelöst wurde, gingen die Befragungsprotokolle an den Chefermittler des später geschaffenen außergewöhnlichen Kriegsgerichtshof. Einer der Gründe für den Sultan, das Parlament aufzulösen, war die Unmöglichkeit, Kabinettsmitglieder bei einem Parlament vor Gericht zu stellen, das stark von den Jungtürken geprägt war. [266]

Im Oberhaus, der Kammer der Notabeln, gab Präsident Ahmet Riza, ein früherer Jungtürke, der mit seiner Partei gebrochen hatte, den Hinweis, daß der Sultan über die Massaker genauso verstört gewesen sei wie er selbst. Als einige türkische Notabeln auch die türkischen und kurdischen Opfer beklagte, antwortete Riza, daß der Unterschied darin bestünde, daß die Armenier nach einem vorangehenden staatlichen Plan getötet worden seien. [266/67]

Damat Ferid Pascha wandte sich gegen die Verwendung des Wortes „Deportationen“: „Diese Leute wurden zwangsweise ausgesiedelt. „Deportation“ beinhaltet, daß sie versetzt oder woanders angesiedelt würden. Wurden sie wiederangesiedelt? Nein. Sie wurden in die Berge getrieben, nachdem ihnen ihre Heimat genommen worden war. Nur Gott weiß, was aus ihnen geworden ist.“ [267]

Die Anzahl der armenischen Toten gab er mit 800000 an, die der griechischen mit 550000. Füge man dem zwei Millionen Muslime hinzu, die schrecklich mißhandelt worden seien, käme man auf drei Millionen Menschen, die infolge von Hunger, Armut, Unterdrückung und einer schlechten Regierung zugrunde gingen. [267]

Damat Ferid Pascha verlangte, daß ein Kriegsgericht sofort mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beginnen solle. Wenn die Nation wünsche, sich selbst zu säubern und zu reinigen, so Ferid, dann müsse sie seine eigenen Kriminellen vor Gericht stellen. Bald sollte er als Regierungschef die Gelegenheit bekommen, seine eigenen Forderungen durchzusetzen. [270]

Maßnahmen der Nachkriegsregierung:

Zwar durften die Armenier unter den ersten osmanischen Nachkriegsregierungen heimkehren, und zwangsislamisierte Christen konnten ihre alte Religion wieder annehmen. Aber es waren nach Auskunft des Außenministers vom 21. Dezember 1918 nur wenige: 2552 Muslime, 19695 Griechen und 23420 Armenier. Später setzten osmanische Minister die Zahl auf 230000 bis fast 280000 Griechen und Armenier herauf. [275]

Kompliziert bis unlösbar war die Rückführung der geraubten Kinder und Frauen. Einmal wußten viele nicht, zu wem sie zurückkehren sollten, weil die Familien auseinandergerissen waren oder niemand überlebt hatte. Oft weigerten sich auch Kinder und Frauen, ihre neue Umgebung zu verlassen. [279]

Doch selbst die Zurückgekehrten fanden nichts vor, um ihre Leben zu fristen. Denn der Besitz war vor allem den Armeniern vor ihrer Deportation praktisch für nichts abgenommen worden. Die Methode beschrieb der österreichisch-ungarische Konsul von Bursa gleichnishaft: Die Armenier mußten im Ordnungsamt ihren Besitz registrieren lassen, dann wurden sie gezwungen, ihn zu verkaufen. Sie mußten ein Dokument unterschreiben, daß sie dem Verkauf freiwillig zugestimmt und eine entsprechende Entschädigung erhalten hätten. In Wahrheit wurde der weit unter Wert liegende Preis aus einem Sack voller Geld genommen. Am Ausgang verlangte ein Funktionär das Geld zurück und steckte es wieder in den Sack, mit dem dann der Kauf der Besitzungen der nächsten Armenier bezahlt wurde. [273]

Denn den Jungtürken ging es vor allem darum, Handel und damit Reichtum von den Christen auf die Muslime zu übertragen. 1917 schrieb der Generalgouverneur von Aleppo, Mustafa Abdülhalik Renda voller Stolz an den Handelsminister: „Mit großer Freude berichte ich Ihnen, daß es uns gelungen ist, die Verhältnisse hier und im Distrikt von Marasch nach den Wünschen der Regierung völlig umzuändern. Meine Provinz ist von den Christen gesäubert. Vor zwei Jahren waren 80 Prozent der Händler und Geschäftsleute Christen, heute sind 95 Prozent von ihnen Muslime und fünf Prozent Christen.“ [273]

Diesen Diebstahl konnten nach Kriegsende auch die Engländer mit verschiedenen Maßnahmen nicht rückgängig machen - nicht nur, weil die meisten ursprünglichen Eigner getötet worden waren. Weder die türkischen Behörden waren bereit, Eigentum zurückzuerstatten, noch weniger die muslimischen Flüchtlinge, die in die Häuser der Armenier eingezogen waren. Auch gab es keine Listen mehr, die die Transfers dokumentierten. [277-278]

Vor allem aber waren es die neureichen Kader, die nicht bereit waren, ihr Raubgut wieder herauszurücken. Sie liefen einfach zu den Nationalisten über, denn die stoppten in den von ihnen beherrschten Regionen alle Versuche eines Ausgleichs. „Jene, die schuldig an den Deportationen waren“, faßte der britische Admiral Webb am 1. Oktober 1919 die Lage zusammen, „werden jetzt zu einem Symbol von türkischem Patriotismus.“ [280]

Mehr noch: Als die Nationalisten die Macht ergriffen hatten, setzten sie am 14. September 1922 den von den Jungtürken erlassenen Artikel über die Konfiszierung armenischen Eigentums wieder in Kraft, den das osmanische Parlament zuvor kassiert hatte, weil er gegen die Verfassung verstoßen habe. [281]

Mehr Erfolg hatten die Briten mit ihrem Druck auf Verfolgung der jungtürkischen Täter. Schon das Kabinett Tevfik Paschas verfügte, daß die Besitzungen von geflohenen Jungtürken nicht an dritte übereignete werden durften. Im November 1918 setzte die Regierung innerhalb des Kriegsministeriums ein Kriegsgericht gegen die flüchtigen Offiziere Enver und Cemal ein sowie eine Kommission, die Kriegsverbrechen untersuchen sollte. Diese dem Justizministerium unterstellte und vom früheren Gouverneur von Bitlis, Ohrili Mazhas Bey geleitete Kommission fand viele Dokumente, die mit den Deportationen in Zusammenhang standen. Sie forderte auch die Beamten des Kriegsministeriums auf, Informationen über den Kriegsausbruch sowie die Einrichtung der Spezialorganisation herauszugeben. Nach drei Wochen betrachtete die Kommission das gesammelte Material als ausreichend, um einen Prozeß zu starten und übergab es dem im Dezember nach einen Dekret des Sultans eingerichteten Außerordentlichen Kriegsgericht. [283/84]

Der Sultan fühlte sich zu diesem Schritt genötigt, weil der Druck auf ihn zur Verfolgung der Täter immer größer wurde. „Die ausländischen Mächte beschuldigen uns, noch nichts gegen die Kriminellen unternommen zu haben“, begründete er seinen Entschluß, „und wenn - Gott lasse es nicht zu! - wir unsere Unabhängigkeit verlieren, würde der Verlust für uns in der Tat groß sein.“ [284]

Das erste außerordentliche Kriegsgericht wurde in Istanbul mit Mahmut Hayret Psascha als Präsident eingesetzt. Drei der sieben Mitglieder des Gerichts waren anfangs Christen und einer von ihnen Richter. Doch durch Personalwechsel sollte bald kein Christ mehr unter ihnen sein und auch kein Zivilist. Daneben gab es weitere Militärgerichtshöfe, doch sie entschieden nichts. Im Mai 1919 waren sie seit drei Monaten in Tätigkeit, aber kein einziger Kriegsverbrecher war verurteilt worden. [285]

Erst mit dem Regierungsantritt des Oppositionsführers Damat Ferid Pascha kam Bewegung in die Gerichtsszene, denn nun konnten die Militärgerichte alle Personen anklagen, die das Land in den Krieg getrieben, Massaker organisiert oder den Haß zwischen den Bevölkerungsgruppen geschürt hatten. Innerhalb eines Tages wurden 66 Mitglieder des Kriegskabinetts, hochrangige Offiziere, Parlamentsabgeordnete und Angehörige der CUP verhaftet. Ferner verbot die Regierung Nachfolge-Parteien der Jungtürken. [286/87]

Die erste Gerichtsverhandlung in Istanbul am 5. Februar 1919 handelte von den kriminellen Aktionen gegen die Armenier der Region Yozgat. Daneben fanden 62 weitere Verhandlungen statt. Von diesen 63 Verhandlungen wurden zwölf - darunter jene gegen die Kabinettsmitglieder und führende CUP-Verantwortliche - vollständig im Regierungsanzeiger dokumentiert mit Anklageschrift, Protokollen der Verhöre sowie der Urteilsbegründung, von weiteren nur die Urteilsbegründung, so im Fall der Gerichtsverhandlungen über Yozgat und Trabzon, von anderen nur die Urteils-Bestätigung durch den Sultan. Über die übrigen 51 Fälle berichteten nur die Zeitungen, wobei ohnehin nur 22 Verhandlungen zu Ende geführt wurden (17 davon mit Freispruch), acht wurden mangels Beweisen eingestellt und die Ergebnisse von den restlichen 21 sind bis heute unbekannt. [288]

Während es bei den meisten Verhandlungen um regionale Fälle handelte, gab es drei Prozesse mit einer überregionalen Bedeutung: Die Prozesse gegen 1) die Mitglieder des Zentralkomitees und ihre Mitarbeitern, sowie die Spezialorganisation; 2) weitere Mitglieder des osmanischen Kriegskabinetts sowie 3) die Parteisekretäre der CUP und die Delegierten. [288]

Der Hauptprozeß gegen die CUP-Führer begann am 28. April 1919 und wurde nach sieben Sitzungen am 17. September abgebrochen, als auf Beschluß der Pariser Friedenskonferenz griechische Truppen in Izmir landeten. Die Angeklagten wurden von den Briten verhaftet und in Malta interniert. „Die Anklage gegen die CUP-Mitglieder und Direktoren der Spezialorganisation ist dennoch von hoher Bedeutung“, schreibt Akçam, „wegen der Original-Dokumente in den Anhängen [der Anklage].“ Der Prozeß gegen die Parteisekretäre wurde nach 13 Sitzungen mit einer Entscheidung am 8. Januar 1920 abgeschlossen. Auch hierbei kamen sehr interessante Details zur Sprache. [289]

Insgesamt wurden 40 hochrangige Politiker und Funktionäre verhaftet und weitere von geringerem Rang. Als erster entfloh der frühere Provinz-Gouverneur von Diyarbakir, Dr. Reşit Bey, der untern den Christen in seinem Vilajet „wie ein toller Bluthund“ gewütet habe, wie der deutsche Konsul Holstein schrieb. Als er am 6. Februar wieder verhaftet werden sollte, erschoß er sich. [289]

Vorbereitet waren die Verhaftungen von den Briten nach Listen der armenischen und griechischen Sektion der britischen Botschaft in Istanbul, die 6700 Namen gesammelt hatten, wie Admiral Thorpe berichtete. Sie enthielten Karteikarten für jeden einzelnen Deportationszug, wobei für die Hälfte von ihnen keine inkriminierenden Beweise erbracht werden konnten, die gerichtsfest waren. Nur wenige dieser von Armeniern beigebrachten Informationen waren nach Ansicht der Briten präzise genug, um sie den Gerichtshöfen zur Verfügung zu stellen. [290]

Am 1. Februar 1919 hatten die Briten den Gerichten auch Listen von 23 Türken übergeben, die britische Kriegsgefangene mißhandelt hatten. Doch statt diese zu verhaften, warnte die türkische Regierung sie, damit die sich aus dem Staub machen konnten. Genau so handelten die türkischen Behörden mit prominenten CUP-Mitgliedern, die sich später oft in ihren Memoiren brüsteten, manchmal mehrmals gewarnt worden zu sein, daß ihre Verhaftung geplant sei. Um die Briten zu täuschen, gaben die türkischen Behörden immer weit mehr Verhaftungen an als erfolgt waren. [292]

Als im Yozgat-Prozeß der lokale Anführer Kemal Bey zum Tode verurteilt und am 10. April 1919 auf dem Beyazit-Platz gehenkt wurde, sagte der britische Admiral Calthorpe, man müsse nun sehen, „ob die Regierung genug Mut hat, in größerem Rahmen und mit der gleichen Härte besonders gegen die hohen Ränge vorzugehen.“ Doch schon bei der Beisetzung des Hingerichteten gab es eine große nationalistische Demonstration. „Kemal Bey, der Große Märtyrer der Türken“ stand auf einem Plakat. „Nicht einer von tausend Türken kann sich vorstellen“, so eine Verlautbarung des britischen Außenministeriums, „daß ein Türke für die Ermordung von Christen gehenkt wird.“ Der Sultan fürchtete sogar Rache-Massaker seiner Landsleute. [293/94]

Einige Briten dachten daran, daß es besser sei, die Verdächtigen außerhalb der Türkei zu bringen. Aber die Pariser Konferenz hatte noch immer nicht den legalen Rahmen für derartige Aktionen geschaffen. Mehr noch: Die Entscheidung der Konferenz, am 16. Mai 1919 griechische Truppen in Izmir landen zu lassen, führte zur Demission des kooperationswilligen Großwesirs Damat. Am Tag nach der Landung wurden die Prozesse unterbrochen. Am 20. und 23. Mai fanden Großdemonstrationen in Istanbul gegen die Besatzungsmächte statt, woraufhin Damat 41 Gefangene freiließ. Der Innenminister wies seinen Polizeichef an, keinerlei weitere Verhaftungen vorzunehmen. [294/95]

Die türkische Regierung selbst empfahl nun den Briten, wichtige Gefangene nach Malta zu bringen. Am 28. Mai verschifften die Briten 67 Häftlinge aus dem Gefängnis von Bekir Ağa nach Mudros und Malta. Am 3. Juni wurden daraufhin die Prozesse fortgeführt und endeten am 13. Juli für einige CUP-Führer und Kabinettsmitglieder mit Todesstrafen. [295]

„Die griechische Besetzung von Izmir“, schreibt Akçam, „bedeutete ein Wendepunkt in der internen Spaltung des osmanischen Staates.“ Schon am 19. Mai verließ Mustafa Kemal, der spätere Atatürk Istanbul und fuhr nach Anatolien. Freunde von der Ex-CUP hatten dafür gesorgt, daß die Regierung ihn, den Armee-General, als Generalinspekteur für Anatolien ernannte, womit er die Macht über die Truppen im Inland erhielt und sofort die Führung der Nationalisten übernahm. [296]

Im Juli und September fanden in Erzurum und Sivas Kongresse statt, die Kemal auch offiziell auf den Schild hoben, der sofort die Regierung in Istanbul als illegal erklärte. Sein erster Erfolg war die Abdankung von Damat Ferid Pascha Ende September, dem Ali Rıza Pascha als Großwesir folgte, der den Kemalisten mehr als wohlgesonnen war. Die Jungtürken seien nun wieder an der Macht, hieß es. [296]

Die Engländer steckten - vorerst - zurück. Hochkommissar Admiral de Robeck notierte: „ Die gegenwärtige türkische Regierung ist so abhängig von der Tolerierung durch die Nationalbewegung, daß ich es für vergeblich halte, irgendeinen Türken wegen eines Verstoßes gegen Christen zu verhaften, selbst wenn er offen in Konstantinopel lebt.“ [298]

Im Oktober 1919 gab es Neuwahlen mit dem Ergebnis, daß fast alle neuen Parlamentarier anatolische Nationalisten waren. Die hatten in Anatolien sogar die Partei des moderaten Damat Ferid blockiert - die daraufhin eine Enthaltung bei der Wahl propagierten - und dafür gesorgt, daß keine Christen an den Wahlen teilnehmen konnten. Mustafa Kemal persönlich hatte am 17. März 1920 ein Zirkular an die Provinzen verschickte, daß „nicht-muslimischen Elementen nicht erlaubt werden darf, an den Wahlen teilzunehmen.“ [298]

Im Parlament gab es keine einzige Aussprache mehr über die Deportationen, dafür aber reihenweise Erklärung wie „ Der Türke ist an dem Tag auf die Welt gekommen, an dem Gott sie erschaffen hat, und er war es, der die Geschichte bestimmte. Er hat die Landkarte bestimmt und die Nation wird ewig leben“. „Solche Stellungnahmen wurden immer wieder durch Applaus unterbrochen“, schreibt Akçam. Nicht einmal die militärische Niederlage gaben die Abgeordneten nunmehr zu. Nicht die jungtürkischen Verbrecher sollten vor Gericht gestellt werden, forderten die Nationalisten, sondern Damat, „weil er die griechischen Besetzung Izmirs erlaubt hat“ - was nie der Fall war. [299/300]

Der britische Hochkommissar sah nur noch eine Möglichkeit, einerseits die Prozesse über den Völkermord fortzusetzen, andererseits mit den neuen/alten Nationalisten fertig zu werden: Istanbul zu besetzen. Dann hätten die Briten völlige Kontrolle und könnten die gefährlichen „nationalistischen Führer verhaften“, so ein Bericht nach London. [300]

Bestärkt wurde er in diesem Glauben durch neue Armeniermassaker, die in Marasch ausbrachen, wo die Franzosen vor den Truppen Mustafa Kemals zurückwichen und die Armenier ihrem Schicksal überließen. Trotz der Bedenken des britischen Oberkommandos entschied sich Premier Lloyd Georges für die Okkupation der Hauptstadt. [300]

Die Italiener gaben diesen Plan sofort an die Kemalisten weiter, doch die Besetzung Istanbuls fand am 16. März 1920 statt. Als erstes wurden die nationalistischen Anführer verhaftet, insgesamt etwa 30 Personen, von denen elf in Malta interniert wurden. Neben den Verdächtigen des Völkermords waren nun auch erstmals „unerwünschte Nationalisten“ in britischem Gewahrsam. [301]

Mustafa Kemals Antwort: Er ließ britische Offiziere in Anatolien verhaften. „Die Nationalisten benutzten die britischen Gefangenen als Geiseln für ihre in Malta inhaftierten eigenen Leute“, schreibt Taner Akçam, „und im Endeffekt erreichten sie die Freilassung der Gefangenen.“ Das Parlament in Istanbul wurde aufgelöst, in Ankara ein neues installiert, das naturgemäß von den Nationalisten beherrscht war. Es erklärte alle Dekrete der noch in Istanbul - erneut unter dem Oppositionspolitiker Damat Ferid Pascha - residierenden Regierung für ungültig, die nach der Besetzung der Stadt erlassen wurden. Damat wurde seiner Bürgerrechte enthoben und als „Verräter“ klassifiziert. „Natürlich verblaßte die Frage nach den Verantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern“, so Akçam, „angesichts dieses nun beginnenden nationalen Kampfes.“ [302]

Kapitel 8: Die Haltung der türkischen Nationalbewegung zum Genozid.

Mustafa Kemal selbst war Jungtürke und stand dazu, trotzdem lehnte er bestimmte Ziele der Jungtürken ab - so den Pan-Turanismus und erst recht den Pan-Islamismus. Aber er war ein überzeugter türkischer Nationalist, der einen rein türkischen Staat anstrebte, in den Grenzen des Waffenstillstandsabkommens. Persönlich hatte sich Mustafa Kemal in der Organisation der CUP nicht hervorgetan, sah aber Enver als einen Konkurrenten an - beide waren gleichaltrig, aber Enver hatte die Militärakademie zwei Jahre früher abgeschlossen und deshalb einen höheren Rang - und bekämpfte dessen militärische Strategie wie auch die Deutschen in dessen Generalstab, was ihm nach dem Kriegsende sehr half. [304/05]

Der spätere Vater der Türken hielt sich zu seiner Zeit in Istanbul oft bei den wegen des Völkermords inhaftierten Kollegen auf, unter denen er viele Freunde hatte. Ihm war durchaus bewußt, daß seine Nationalbewegung „voll auf den jungtürkischen Grundlagen basierte“, wie Akçam schreibt. Dr. Nâzim, einer der Hauptübeltäter beim Völkermord, schrieb einmal, daß die Nationalbewegung von Jungtürken angeführt und der Erfolg von „Blondi“ - so der Kosename für Mustafa Kemal - sehr stark davon abhänge, wie gut er mit ihnen zusammenarbeiten würde. [305/06]

Weil Mustafa Kemal seine Bewegung 1926 von alten jungtürkischen Führern säuberte, wird häufig versucht, die Verbindung zwischen Jungtürken und Kemalisten zu minimieren, doch Mustafa Kemal verdankte seine Stärke der Vorsorge der Jungtürken, die große Waffenlager in Anatolien aufgebaut, Widerstandsgruppen organisiert und entsprechende militärische Strategien entwickelt hatten, als die Niederlage sich abzeichnete. [306]

Die ersten 1918/19 gegründeten Gesellschaften zur „Verteidigung der Rechte“ hatten noch Talaat und das CUP-Zentralkomitee ins Leben gerufen. Nach dem Waffenstillstand wurden sie auch von den jeweiligen osmanischen Regierungenunterstützt, der von Damat Ferid eingeschlossen. Eine der effektivsten nationalistischen Widerstandsbewegungen war die Karakol, die auf direkten Befehl von Talaat und Enver gegründet worden war. Sie sollte die Arbeit der CUP im Geheimen weiterführen, Schlupflöcher und Fluchtwege für CUP-Führer aufbauen, die wegen ihrer Rolle beim Völkermord an den Armeniern gesucht würden und Türken schützen, die durch Aktivitäten der Christen gefährdet seien. Zeitgleich ging auch die Spezialorganisation sozusagen in den Untergrund und wurde umbenannt in „Allgemeines Islamisches Welt-Revolutionskomitee“. [307/09]

„Viele Memoiren über die damalige Zeit identifizieren Karakol als diejenige Organisation, die schließlich Mustafa Kemal überzeugt hat, die Leitung der entstehenden Nationalbewegung zu übernehmen. Sie soll auch im Istanbuler Kriegsministerium dafür gesorgt haben, daß Mustafa Kemal als Inspektor nach Anatolien entsandt wurde. Der war gegenüber der Karakol skeptisch eingestellt - angeblich habe er von ihr erst auf dem Kongreß von Erzurum im Juli 1919 erfahren -, weil sie unter der Kontrolle von Enver stand, arbeitete aber mit ihr zusammen, als er in Anatolien angekommen war. „Sein Freund und Kollege General Ali Fuat Cebesoy bestätigte“, schreibt Akçam, „daß Mustafa Kemal engen Kontakt mit Karakol während seiner Zeit in Istanbul vom November 1918 bis Mai 1919 hatte und mit dieser Organisation sogar zusammenarbeitete, um den Sultan zu ermorden und den Großwesir zu kidnappen.“ [311]

Mustafa Kemal distanzierte sich von Karakol, nahm aber ihre Mitglieder in seine Organisation auf. Denn ihm war klar, daß ihm eine zu enge Verbindung zu dem alten Komitee Einheit und Fortschritt politisch schaden konnte. Nach Gründung der Republik 1923 sorgte er dafür, daß einige der führenden Jungtürken am Galgen landeten. Aber viele der politischen Grundzüge der Union stimmten mit den seinigen überein. Einem englischen Journalisten antwortete er auf die Frage, ob er die Verbrechen der Jungtürken akzeptiere: „Ich bin kein Repräsentant der Union. Aber ich möchte Ihnen sagen, daß die Union eine patriotische Gesellschaft war. Sie mag sehr fehlerhaft gewesen sein, aber ihr Patriotismus steht außer Frage.“ „Und er hielt auch daran fest“, fügte der englische Journalist hinzu, “daß er zur allgemeine Linie der CUP stünde.“ Die Übertäter von Kriegverbrechen seien nur ein kleine Fraktion der CUP gewesen, so Mustafa Kemals Credo, und es sei falsch und sogar gefährlich, die Reputation der ehrenhaften CUP-Mitglieder zu besudeln. [312/13]

Um sich äußerlich von der CUP-Politik zu distanzieren, schworen die Teilnehmer am Kongreß von Sivas am 4. September 1919, „daß ich nicht dazu beitragen werde, die Union Einheit und Fortschritt wiederzubeleben.“ Was dieser Schwüre wert sind, zeigte die Erneuerungspartei, die direkte Nachfolgerin der Union für Einheit und Fortschritt, die ebenfalls schwor, nie etwas mit der CUP zu tun gehabt zu haben. Der Schwur von Sivas, so ein altes CUP-Mitglied, „war reine Formsache.“ [213/14]

Nur in einem Punkt rückte Mustafa Kemal klar von den Jungtürken ab: Er lehnte jede Form von Pan-Turanismus und Pan-Islamismus ab. Den Turanismus nannte er in einem Brief an die Briten „ein gefährliches Konzept“. Zum Pan-Islamismus sagte er am 1. Dezember 1921: „Sicher, wir wünschen, daß unsere Religionsbrüder überall auf der Welt glücklich sind und im Wohlstand leben.“ Aber „es ist reine Fantasie, sich eine Gemeinschaft“ der Muslime dieser Welt „als ein großes Imperium vorzustellen, das von einem Ort aus regiert wird. Das ist wider alle Kenntnis, Logik und Wissenschaft.“ [315]

Die Türkei in den Grenzen des Siedlungsgebiets der Türken - das also war Mustafa Kemals Ziel. Doch wo liegen diese Grenzen? Auf keinem der Kongresse legten die Nationalisten diese Grenzen fest. Am 16. Oktober 1921 definierte sie Mustafa Kemal selbst vor der Nationalversammlung: „Es gibt keine vorherbestimmte und definitive Grenze in unserem Nationalpakt. Die Grenze wird jene sein, die wir mit unserer Kraft und Stärke errichten.“ [316]

Damit war der Konflikt mit Armeniern und Griechen vorprogrammiert, denn Mustafa Kemal und die Seinen sahen in ihnen Konkurrenten, die es zu bekämpfen galt. Heute wird Atatürks Bewegung allgemein als anti-imperialistisch, als gegen eine feindliche Besetzung hingestellt. „Die Verteidigungskomitees aber kämpften nie gegen die alliierten Mächte“, schreibt Akçam, „ihr Ziel bestand daran, die Ententemächte vom Türkentum Anatoliens zu ‚überzeugen’“. [319]

Um eine Aufsplitterung der Türkei zu verhindern, waren die Kemalisten sogar dazu bereit, ein amerikanisches Mandat über das gesamte Territorium zu akzeptieren. Der Kongreß von Sivas forderte die Amerikaner sogar offiziell auf, eine Delegation zu schicken, um über dieses Problem zu diskutieren. Selbst Frankreich hätten die Nationalisten als Mandatsmacht akzeptiert. In Adana wurden die französischen Soldaten im Juni 1919 sogar mit Blumen empfangen. [320]

Nur die französischen Besatzungskräfte in den Regionen um Aintab, Urfa und Marsch wurden mit Waffen bekämpft, denn in ihren Reihen kämpften armenische Freiwillige, die eine Rückgabe ihres Eigentums verlangten, während es keinerlei Konflikte gegeben hatte, als zuvor die Briten dieses Gebiete besetzt hatten. Auch in Ostanatolien begrüßten die Türken anfangs die britischen Besatzer. Der Wind drehte sich erst, als die Briten die Rückkehr der Armenier nach Kars verlangten. [320/321]

Selbst die Besetzung von Izmir (wo Griechen und Armenier die Mehrheit bildeten) stieß nicht auf Ablehnung durch die Nationalbewegung, sondern die Tatsache, daß die Besetzer Griechen waren. Selbst als der bewaffnete Kampf gegen die Griechen begonnen hatten, machten die Türken klar, daß sie nichts gegen die Alliierten hätten und die Briten als Besatzungsmacht akzeptierten. [321]

„Trotz dieser Avancen hielten die alliierten Mächte großen Abstand zu den Türken“, schreibt Akçam, „sie gaben in nichts nach, weil sie osmanisches Territorium im Sinn hatten und die Türkei für den Völkermord sowie den Krieg bestrafen wollten.“ [322]

Nach der von den Alliierten unterstützten Besetzung Westanatoliens durch Griechen und als Antwort auf die Vorstellungen der Armenier von einem eigenen Staat „wurde innerhalb des Osmanischen Reichs, obgleich verleugnet, der religiöse Aspekt der türkischen Staatsbildung immer stärker“, schreibt Akçam, „nach 1919 massakrierten die Griechen, Armenier und die Türkischen Bewegung die anderen Gruppen unter ihrer Kontrolle oder vertrieben sie.“ Auch die Kurden wurden in dieses Spiel eingebunden, die Briten hatten ihnen einen eigenen Staat versprochen, die Türken ihnen Autonomie und Beistand gegen die zurückkehrenden Armenier. Die Tatsache aber, daß die Kurden einen bestimmten Grad an Unabhängigkeit anstrebten, machte sie auch für die türkische Nationalbewegung zum Feind. Ein kurdischer Aufstand 1919 bis 1921 mit den entsprechenden Repressionen zeugte davon. [322]

„Die Nationalbewegung war zutiefst durch die Religion bestimmt“, schreibt Akçam, „trotz aller Behauptungen des Gegenteils.“ Mustafa Kemal selbst sagte: „Die Nation besteht aus verschiedenen muslimischen Völkern“ und sprach davon, daß dies muslimischen Völker - namentlich Tscherkessen und Lasen - die gleichen Rechte hätten. Die Wahlen zur Nationalversammlung schlossen denn auch Muslime ausdrücklich ein, nicht nur Türken. [322/23]

1921 wurden nach einem offiziellen Bericht 11181 Griechen ermordet, und zwar von der offiziellen, also Istanbul unterstehenden Armee. Die gesamte männliche Bevölkerung der Orte und Städte an der Schwarzmeer-Küste wurde ausgewiesen. Die Nationalversammlung, der die Armee offiziell unterstand, enthob daraufhin sogar den Befehlshaber der Zentralkräfte, Nuretttin Pascha, von seinem Amt und stellte ihn vor Gericht, was Mustafa Kemal zu verhindern vermochte. Nurettin hatte sogar die Tötung aller Griechen und Armenier in Anatolien verlangt, was Kemal wiederum ablehnte. [323]

Die Türken hatten zum Kriegsende im Nordosten mehr Terrain besetzt, als ihnen der Vertrag von Brest-Litowsk zustand, nach dem Zusammenbruch des Reichs kam ein Teil dieser Region unter britische Besatzung. Bis Ende 1920 kontrollierten die Armenier unter britischem Protektorat Städte wie Kars, doch nach dem Rückzug der Briten erobert die Türke, mit bolschewistischer Hilfe, diese Regionen zurück. Vehip Pascha, seit 1916 Befehlshaber der Dritten Armee, hatte den Armenier angekündigt: „Das Schicksal treibt die Türkei vom Westen zum Osten. Unsere Brüder leben in Baku, Daghestan, Turkistan und Aserbaidschan. Ihr Armenier steht uns im Weg. Ihr müßt zur Seite rücken und uns den Raum geben.“ [324]

Türkische Truppen unter der Führung von Envers Bruder Nuri und Envers Onkel Halil hatten Massaker unter Armeniern angerichtet. Ende Juli flohen etwa 600000 Kaukasus-Armenier vor den türkischen Einheiten. Massaker an den Armeniern, von Halil in seinen Memoiren zugegeben, gingen bis zum Herbst 1919 weiter. Doch auch nach Kriegsende - 1920 bis 1921 - nahm die türkische Armee die Jagd auf die Armenier wieder auf. „Die Mitglieder des neuen türkischen Parlaments“, schriebt Akçam, „verstanden ihre Armenienpolitik als einen Versuch, die nicht vollendete Arbeit der Vorgängerregierung weiterzuführen.“ Das Auswärtige Amt in Ankara schickte ein verschlüsseltes Telegramm an den Heerführer Kâzim Karabekir Pascha: „Am wichtigsten ist es, Armenien auszuschalten, politisch wie auch materiell.“ [325/26]

Und physisch. Der sowjetische Botschafter in Ankara schätzte, daß 69000 Armenier umgebracht worden seien. Die Sowjet-Enzyklopädie von 1961 gibt die Zahl von 198000 Opfern an. Dabei muß man wissen, daß die Sowjets lange Zeit beste Beziehungen zu der Nationalbewegung Mustafa Kemals unterhielt, denn sie einte der gemeinsame Feind, die Entente-Mächte. [327]

Aber auch die Griechen führten in den Jahren 1919 bis 1922 regelrechte Massaker unter der muslimischen Bevölkerung Westanatoliens durch und die Armenier im Kaukasus. Die ersten Rachemaßnahmen in den Ostprovinzen fanden 1916 statt, als die Russen mit armenischen Freiwilligen auf osmanisches Territorium vordrangen. Allein in Bitlis sollen zwei bis dreitausend Muslime ermordet worden sein. Die Russen, die die Massaker an den Armeniern miterlebt hatten und von kurdischen Irregulären angegriffen worden waren, duldeten diese Massaker und ihre eigenen Kosaken nahmen an den Mordaktionen teil und töteten jeden Türken, den sie sahen. [327/28]

Armenische Freiwillige in den Reihen der russischen Truppen hatten muslimische Bewohner in Erzurum getötet, sowohl bei der Erstürmung der Stadt als auch beim Rückzug, desgleichen in Erzincan, Kars und verschiedenen anderen Plätzen. Der türkische General Vehib Pascha schätz die Zahl der ermordeten Muslime in der Region von Erzurum und Baiburt auf 3000, andere Augenzeugen sprechen von 3000 Muslimen allein in Erzurum. In der Kars-Region sollen im Frühjahr 1918 bis zu 20000 Muslime von Armeniern umgebracht worden sein.

Obgleich die neue armenische Regierung die Aktivitäten dieser Banden, die extra für Rachefeldzüge rekrutiert worden waren, einzudämmen versuchte, brachte sie die eigenen Ultras nie unter ihre Kontrolle. Guerilleros und Freiheitskämpfer aus den Jahren des Kampfes gegen die türkische Unterdrückung“, schreibt selbst der bekannteste armenischen Historiker der Ersten Republik, Richard G. Hovannisian, „raubten und plünderten nun selbst am hellichten Tag. Freiheitskämpfer wurden zu Geächteten.“ Ein Beispiel war der berühmte armenische General Andranik, der die muslimischen Dörfer in den Regionen um Armenien ein tatarisches Dorf nach dem andern überfiel, so daß die eigene armenische Regierung ihn zur persona non grata erklärte. [329]

Die Verbrechen der Armenier werden von der türkischen Historiographie oft als mit denen des Genozids verrechnet. „Vorausgehende Massaker sind niemals eine Rechtfertigung für nachfolgende“, schreibt Akçam, „im türkischen Fall könnten nachfolgende Verbrechen nicht einen Genozid rechtfertigen, der zuvor stattfand. [329/30]

Beim Kampf der Türken gegen die Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich in den Jahren 1920 bis 1923 - später als der Unabhängigkeitskampf bezeichnet - ging es um die Errichtung eines nationalen türkischen Staates auf der Basis des Nationalpakt, der die Erhaltung der sechs ostanatolischen Provinzen zum Ziel hatte. Die Armenier beanspruchten diese Provinzen - nach den Versprechungen der Ententemächte - für sich „und die Regierung in Istanbul war bereit, darüber zu verhandeln“, wie Akçam schreibt. Zwar soll auch Kemal in Verhandlungen mit den Bolschewisten bereit gewesen sein, Teile der Provinz Bitlis und Van an die Republik Armenien abzutreten, aber das Parlament in Ankara lehnte jeden Kompromiß ab. [332]

„Die Existenz der Republik Armenien“, schreibt Akçam, „wurde allgemein von Ankara als die größte ‚Bedrohung’ für ihr eigenes Überleben angesehen.“ General Kâzim Karabekir empfahl sogar eine sofortige Besetzung armenischer Territorien und Ankara bezeichnete seine Beziehungen zu Republik Armenien als „im Kriegszustand“. Auch die neue Republik Armenien erklärte es als ihr Ziel, „die Länder der Ahnen in Transkaukasien und dem Osmanischen Reich zu befreien und zu vereinigen.“ [334]

Nach außen hin begrüßte Mustafa Kemal die Republik Armenien als „ein Armenien, das außerhalb der osmanischen Grenzen entstanden“ sei. Intern jedoch instruierte sein Außenminister Ahmet Muhtar den Befehlshaber der Ostarmee, Karabekir Pascha, „daß es von allergrößter Bedeutung ist, daß Armenien politisch und physisch ausgeschaltet“ würde. „Diese Instruktionen, die das wahre Verlangen des Kabinetts ausdrücken, sind vertraulich. Sie sind nur für Sie persönlich gedacht.“ Was unter „Ausschaltung“ gemeint sei, erläuterte Muhtar in einer Geheimsitzung des türkischen Parlaments: „Das Ziel ist, die Bedrohung auszuschalten, nicht die Nation.“ Die kleine Republik Armenien als Bedrohung der großen Türkei - dieser Spuk beherrscht bis heute die Köpfe der türkischen Nationalisten. [234/35]

Und auch ein anderes noch heute übliches Muster wurde schon damals entwickelt. Kemal ließ „eine Liste mit allen armenischen Verbrechen ohne jede Ausnahme“ anfertigen, alle von Christen allgemein begangenen Untaten gegen Muslime sollten aufgezählt und überall in Europa jedesmal zur Sprache gebracht werden, wenn vom Völkermord an den Armeniern die Rede ist - ungeachtet der Tatsache, daß die Verbrechen an den Christen stets vor den Racheakten lag und eine ganz andere Dimension hatten. [335]

Es sollte klar gemacht werden, so Mustafa Kemals Vorstellungen, daß die Massaker der Armenier an den Muslimen in einem Gebiet ausgeführt wurden, „das von der Regierung Armeniens kontrolliert wurde“, während der Völkermord an den Armeniern „ein Vorfall war, der in jedem Fall während des Weltkriegs passiert“ sei. „Für die Türken war am wichtigsten“, schreibt Akçam, „daß Muslime getötete worden waren. Jede Diskussion des Völkermords an den Armeniern in der Türkei war überschattet von dem andauernden Krieg mit der neu gründeten Republik Armenien.“ [336]

Die Europäer hingegen sahen ein ganz anderes Problem: Die Kontinuität der Jungtürkenideologie. Ein britischer Gemeindienstler schrieb nach seinen Kontakten mit den Mitgliedern von Kemals Partei, es sei überzeugter denn je, daß das Komitee Einheit und Fortschritt die Basis der Nationalbewegung sei. Drei Viertel aller Mitglieder eines Parteikongresses, auf dem er war, seien alte CUP-Mitglieder gewesen. Auch Damat Ferid Pascha bezeichnete mehrmals Mustafa Kemals Organisation als „Neo-Unionist“, Kemal selbst sei „ein Angestellter der CUP“. [336]

Die Nationalbewegung plane neue Massaker an der nicht-muslimischen Bevölkerung, war der Tenor vieler Artikel in Istanbul. „Es wurde angenommen“, so Akçam, „daß es eine zweite Kampagne zur Vernichtung der Armenier geben würde“. Die westliche Presse war sogar voller Artikel über Greuel der Nationalbewegung. Nach den Massakern an den Armenier in Marasch und Umgebung im Frühjahr 1920 vermutete die britische Opposition Pläne Mustafa Kemals, alle Christen in Kilikien umzubringen. In die gleiche Kerbe schlug auch das armenischen Patriarchat, die von Vorbereitungen der türkischen Armee sprach mit dem Ziel, alle Armenier im Kaukasus umzubringen [337]

Die Nationalbewegung hielt dagegen und Mustafa Kemal persönlich versucht sowohl hohe britische Repräsentanten als auch die Weltpresse davon zu überzeugen, daß es keine Feindlichkeit gegenüber nicht-muslimischen Minderheiten gäbe. „Wir garantieren“, versicherte er dem britischen General Harbord am 15. Oktober 1919, „daß es keine neuen türkischen Gewaltakte gegen die Armenier mehr geben wird“, was er fast wörtlich auch der „American Radio Gazette“ gegenüber wiederholte. [338]

Die Armenierverfolgungen in Marasch Anfang 1920 hatte dann aber doch die Besetzung Istanbuls zur Folge, obgleich das Ankara-Regime ankündigte, jene hart zu bestrafen, die Christen mißhandelt hätten. „Wir haben alle staatlichen Stellen informiert“, betonte Mustafa Kemal in einer Rede 1921 vor der Nationalversammlung, „daß es notwendig ist, das Wohlsein der armenischen Bevölkerung zu sichern.“ [339]

Der Meinung waren viele Mitglieder der Nationalbewegung mit Sicherheit nicht, denn sie hatten sich beim Völkermord bereichert und fürchteten um ihre Pfründe. „Die Furcht vor armenischen Freiwilligeneinheiten in den Gebieten unter Kontrolle der Besatzungsmächte nährten die Furcht der Neureichen. Als Ende 1918 die französische Armee in Kilikien einmarschierte, begeleitet von einer speziellen armenischen Legion von 400 Mann, wurde der erste Schuß im türkischen Befreiungskrieg auf Armenier abgefeuert“, schreibt Akçam. [340]

Das einst von Armeniern wirtschaftlich beherrschte Kilikien war ursprünglich von britischen Soldaten besetzt, gegen die sich die Muslime nicht wehrten. In Marasch war der für die politischen Angelegenheiten zuständige britische Offizier ein Muslim aus Indien, der Armenier, die ihren Besitz zurückverlangten, an die osmanische Regierung verwies, weil er nur für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig sei. Die muslimischen Notabeln lohnten es ihm, indem sie keine Abgeordneten zu den nationalistischen Kongressen von Erzurum und Sivas schickten. [341]

Dann aber kamen Engländern und Franzosen vom 15. September 1919 überein, daß französische militärische Einheiten und armenische Freiwillige die Städte Marasch, Urfa und Anteb (Aintab) sichern sollten. Daraufhin emigrierten - so französische Angaben - etwa 12000 in Anatolien verbliebene Armenier nach Kilikien und siedelten sich bis Ende 1919 dort wieder an. Sie taten es gegen den Willen der Istanbuler Regierung und mit dem Plazet der Besatzungsmächte. Diese Armenier forderten ihren Besitz zurück und rechristianisierten zwangsislamisierte Frauen.

Die durch Aneignung armenischen Eigentums zu Neureichen aufgestiegenen Muslime der Region waren schon in verschiedenen Gremien der Nationalisten tätig, besonders den „Komitees zur Verteidigung der Rechte“. Darunter waren Mitglieder der Zentralkomitees sowie der Spezialorganisation. Sie zogen nun auch jene muslimischen Neureichen mit sich, die im Gefolge der Umverteilung gute Geschäfte gemacht hatten. [340/341]

„Indem wir uns die Mitglieder der Nationalen Kräfte und die der Verteidigungskomitees genauer ansehen“, schreibt Akçam, „können wir die enge Verbindung zwischen den leitenden Personen des türkischen Unabhängigkeitskrieges und des Völkermords an den Armeniern nachweisen.“ Wie gesehen waren ein Großteil der nationalen Kräfte frühere Mitglieder der Spezialorganisation. Taner Akçam führte eine ganze Reihe von leitenden Persönlichkeiten in der Marmara-Region und der des Schwarzen Meers auf, die beim Völkermord an den Armeniern eine besondere Rolle gespielt hatten, größtenteils als Mitglieder der Spezialorganisation. In der Ägäis zeichnet Akçam ebenfalls die persönliche Kontinuität zwischen den an den Verbrechen gegen die Griechen Beteiligten und den Nationalen Kräften nach. [342/44]

„So ist es schwierig“, schreibt Akçam, „von einer klaren Haltung Mustafa Kemals zum Völkermord an den Armenier zu sprechen.“ Denn der Ablehnung des Völkermords steht die bewußte Rekrutierung jener gegenüber, die diesen Völkermord begangen hatten. „Als er damit begann, die Revolte in Anatolien zu organisieren“, schreibt Akçam, „erhielt Mustafa Kemal große Unterstützung von früheren Jungtürken, die wegen ihrer Teilnahme am Völkermord gesucht wurden.“ [344/45]

Mustafa Kemals Ausweg: „Er hielt oft Reden“, so Akçam, „in denen er zugleich die Ereignisse kritisierte, aber ihre Bedeutung herunterspielte. Für ihn war das nicht einer Frage erster Ordnung. Für Kemal war das Wichtigste die Herstellung eines unabhängigen türkischen Staates auf der Basis der Grenzen des Waffenstillstands. Die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die die Verbrechen begangen hatten, war in seinen Worten ‚ein Detail’“ - ein Detail, das, ebenfalls nach seinen Worten, nach der Errichtung eines türkischen Nationalstaats „von selbst verschwinden“ würde. [345]

„ Ihm war die Schwere der Anschuldigungen des Genozids wohl bewußt“, schreibt Akçam, „deshalb näherte er sich dem Thema mit großer Vorsicht und Sensibilität, besonders wenn er Repräsentanten westlicher Staaten traf.“ So gab er in einem Gespräch mit General Harbort zu, daß etwa 800000 Armenier getötet worden waren. Harbort sagte später, Mustafa Kemal „hat die Massaker an den Armeniern auch mißbilligt.“ Besonders bedeutsam findet Akçam, „das Kemal die offizielle osmanische Position über die Zahl der armenischen Toten bestätigte, die der osmanische Innenminister Cemal am 13. Mai 1919 nannte und die ein große Kontroverse ausgelöst hatte.“ Aber Kemal bestand weiterhin darauf, daß „die Tötung und Ausweisung der Armenier das Werk eines kleines Komitees war, das die Kontrolle der Regierung an sich gerissen hatte.“ [345]

In Gesprächen mit westlichen Journalisten attackiert Kemal diese führenden Personen sogar. Er ging so weit zu sagen, es sei richtig sie aufzuhängen. „Worauf warten die alliierten Mächte eigentlich, diese Schurken zu hängen?“ fragte er einmal. In geschlossenen Sitzungen der Partei schob er den Genozid eher beiseite, so in seiner langen Rede vom 24. April 1920. Während er den Völkermord verurteilte, sprach er von „einem schändlichen Akt, der der Vergangenheit angehört.“ [346]

Weil er fürchtete, daß die Westmächte der Türkei vorwerfen könnten, in dem seiner Meinung nach unausweichlichen Kampf gegen die Armenier Massaker zu begehen, kabelte er am 6. Mai 1920 an seinen Heerführer Kâsim Karabekir: „Gerade weil die armenischen Vorfälle unter den wichtigsten Faktoren sind, die die christliche Welt gegen uns vorbringt, ist für sie die Beseitigung der armenischen Regierung durch unsere bewaffneten Kräfte gleichbedeutend mit erneuten Massakern von Armeniern. Unsere Armee ist deshalb im Augenblick sehr vorsichtig, um jede Art von offizieller oder öffentlicher Attacke oder feindlicher Aktion durchzuführen.“ [346]

Kemal hielt, so Akçam, die fremden Mächte wie auch die Armenier für verantwortlich für den Völkermord. „Ausländische Intrigen haben das Unglück herbeigeführt, das der Türkei widerfahren ist“, sagte er einmal - eine Argumentation, die Talaat im Zusammenhang mit dem Völkermord fast wörtlich ebenso gebrauchte. Gegenüber dem britischen General Harbord klagte er, daß Massentötungen „in Amerika, Frankreich und England genauso passieren, aber nur die Türkei wird für das Massaker von 800000 seiner eigenen Bürger verantwortlich gemacht.“ [346]

Der Völkermord an den Armeniern wurde von Mustafa Kemal und seinen Leuten nur anerkannt, wenn es den eigenen Zielen nutzte. Intern vermieden es die Nationalisten, die Frage anzusprechen. Es gäbe „gewisse Situationen, die der Türkei erwachsen sind“, so Kemal selbst, „die einer Erwähnung nicht wert sind.“ Oder: „Solche Ereignisse mögen schon stattgefunden haben, aber es gibt gute Erklärungen dafür.“ Was immer den Armeniern passiert sei, sagte er einmal, ginge auf ihre eigenen Aktionen zurück und deshalb könnten Muslime dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Da paßte kein Blatt Papier zwischen den Ausflüchten der Jungtürken und denen Mustafa Kemals. [347/48]

„Trotzdem ist seine Verurteilung des armenischen Unglücks beachtenswert“, schreibt Akçam. „Obgleich Mustafa Kemal von Unionisten umringt war und obgleich der Kampf um die Unabhängigkeit auf die Organisation und die personelle Unterstützung der Partei Einheit und Fortschritt angewiesen war, scheute er sich nicht den Genozid von 1915 sogar in einer geschlossenen Sitzung des Parlaments ‚einen schändlichen Akt’ zu nennen. Er war nicht genötigt, eine solche Erklärung in einer Geheimsitzung abzugeben. Seine weitsichtige Überzeugung daß die neue Türkische Republik politisch wie moralisch frei sein solle von einer erblichen Belastung, eben diesem ‚schändlichem Akt’ könnte der heutigen Türkei als ein wichtiges Modell dienen.“

Kapitel 9: Die Schlußphase der Gerichtsprozesse.

Nach dem Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920 sollte die Türkei erst zwischen den Großmächten aufgeteilt werden, der Rest dann zwischen Türken, Kurden, Griechen und Armeniern. Eine Bestrafung der Völkermörder als Vorleitung für einen fairen Vertrag war damit aus Sicht der Nationalbewegung nicht mehr gegeben. Und dann verhängte das Militärtribunal in Istanbul auch noch Todesstrafen gegen Führer der Nationalbewegung. [349]

Vor der britischen Besetzung Istanbuls im März 1920 war es den nationalistischen Kräften gelungen, die Prozeßlawinen zu bremsen. Nachdem Damat Ferid Pascha am 5. April zum zweiten Mal mit der Regierung betraut wurde, setzten neue Verhaftungen ein. [349/50]

Die Istanbuler Regierung hatte den Vertrag von Sèvres unterzeichnet und ging nunmehr auch militärisch gegen die Nationalbewegung vor. Das Militärtribunal verhängte Todesstrafen gegen 16 Mitglieder der Kemalisten wegen Mordversuchs an Damat Ferid Pascha, von denen vier vollstreckt wurden. Der Mordkomplott sollte von der Regierung in Ankara angeordnet worden sein und auch Mustafa Kemal wurde in absentia zum Tode verurteilt. Weitere etwa 100 Todesurteile folgten. [350/51]

Auch gegen die Völkermörder gingen die Richter scharf vor. Am 20. Juli 1920 verhängten sie die Todesstrafe gegen den Präfekten von Urfa, Nusret Bey, der kurze Zeit darauf gehenkt wurde. Und der Gendarmerieoffizier Abdullah Avni aus Erzincan wurde ebenfalls exekutiert. [351]

Das Istanbuler Militärgericht vermischte damit zwei völlig unterschiedliche Vergehen. Wobei es falsch sei, so Akçam, „darauf zu schließen, daß alle Mitglieder des Zentrums in Ankara schuldig für den Völkermord waren oder die meisten in Istanbul schuldlos.“ Die juristischen Fronten waren verwischt, die realen auch. So war einer der Anführer der Rebellion gegen Ankara ein ehemaliges Mitglied der Spezialorganisation. [351]

Mit dem Vertrag von Sèvres war es mit der Toleranz der Nationalbewegung gegenüber den Gerichten vorbei. Mustafa Kemal selbst gab die Losung aus, alles zu tun, um die des Völkermords Verdächtigten zu retten. [351]

Die Regierung in Ankara setzte alle Dekrete der Regierung in Istanbul außer Kraft, das gleiche tat das Parlament in Ankara, das sich zur einzigen legitimen Volksvertretung erklärte, mit den Beschlüssen der Istanbuler Nationalversammlung. Die Regierung in Ankara setzte nicht nur alle Kriegsgerichte auf dem von ihr kontrollierten Territorium außer Kraft, sondern auch alle übrigen. Die beiden wegen Völkermordverbrechen Hingerichteten wurden zu „nationalen Märtyrern“ erklärt, ihren Familien Sonderrenten gewährt. Schulen und Straßen in Urfa erhielten den Namen des Völkermörders. Nachdem armenische Rächer die Hauptverantwortlichen für den Genozid aufgestöbert und getötet hatten, erhielten auch deren Familien Renten, Land und Besitztümer, darunter Talaat, Enver und Cemal, das berüchtigte Jungtürken-Triumvirat. [352/53]

Als Die Briten Gefangene von Malta nach Istanbul brachten, kündigte der Innenminister Ankaras Maßnahmen auch gegen die Briten an. Mustafa Kemal schrieb zwei Tage nach der Unterzeichnung des Sèvres-Vertrags an das britische Hauptquartier: „Die osmanische Regierung fährt fort, Kinder des Landes zu hängen mit der Behauptung von Deportationen und Massaker, die jedwede Bedeutung verloren haben.“ „Die Sprache des Briefes macht klar“, schreibt Akçam, „daß solche Exekutionen nur ausgeführt werden sollen, wenn sie einen Zweck erfüllt.“ [353]

Kemals Brief fuhr fort: „Sollte einer der Gefangenen bereits nach Istanbul gebracht worden sein oder gebracht werden, um dort hingerichtet zu werden, selbst auf Befehl der widerlichen Istanbuler Regierung, würden wir ernsthaft darüber nachdenken, alle britischen Gefangenen in unserer Hand ebenfalls hinzurichten.“ [353]

„Die Drohung wirkte“, schreibt Taner Akçam“, es wurden keine weiteren Urteile verhängt.“ Damat Ferids siebtes und letztes Kabinett gab am 17 Oktober 1920 auf und der nationalistische Tevfik Pascha kehrte an die Macht zurück. Am 14. November wurden der Präsident des Militärtribunals und drei weitere Richter wegen angeblicher Irregularitäten beim Todesurteil gegen Nusret verhaftet. Am 10. Dezember begann der neue Präsident, Gefangene freizulassen. [354]

Gleichzeitig prüfte das Oberste Militärgericht, ob die Mitgliedschaft in den Nationalstreitkräften (Kemals) eine Straftat sei, am 16. April 1921 entschied der neue Istanbuler Kriegsminister: „Die Zusammenarbeit mit den Nationalstreitkräften verdient Applaus. Stellt all diese Fälle ein.“ Am 24. April entschied das Oberste Militärgericht: „Die Nationalstreitkräfte zu belasten widerspricht der ehrenwerten Pflicht, die Heimat zu verteidigen.“ Am 11. Juli wurden die außerordentlichen Kriegsgerichte aufgelöst. Am 6. November 1922 marschierten die Truppen der Nationalstreitkräfte in Istanbul ein. Die von der Nationalversammlung in Ankara erlassenen Gesetze galten fortan für das ganze Land. [354]

Haß auf die Armenier und Mißtrauen ihnen gegenüber trieben neue Blüten. Die Armenier wurden einmal mehr als innerer Feind aufgebaut, nachdem sie fast ausgerottet waren. Die Wurzel des Problems, erklärte der ansonsten liberale Abgeordnete von Erzurum, Hüseyin Avni Bey, in einer Parlamentsrede, sei, daß die Armenier ein intrigantes Volk seien. „Sie werden uns von innen her zerstören.“ Genau das würde passieren, das sei absolut wahr, assistierte Mustafa Kemal, Hüseyin Avni Bey habe völlig recht. [356]

Die Türkei werde eines Tages wieder aufstehen, prophezeite der Abgeordnete von Hakkari, Mazhar Müfit in der gleichen Sitzung und erklärte sich: „Wenn ein Schwein einen Diamanten verschlingt, soll man dann den Diamanten schonen oder das Schwein? Dieser Edelstein, dieser Diamant darf nicht geopfert werden, um das armenische Schwein zu schonen.“ [355]

Eine Aufarbeitung de Völkermords an den Armeniern durch die Türken selbst war damit erledigt. Doch noch immer waren etwa 200 des Genozids Verdächtige in Malta interniert. Da nichts über sie im Vertrag von Sèvres entschieden war, wollten die Briten die Sache in eigene Hände nehmen. Doch schließlich endete es in einem Deal mit den Nationalisten um Mustafa Kemal.

Denn das Hauptproblem für die Briten war die fehlende Rechtsgrundlage für eine eigene Verurteilung, nachdem im Vertrag von Sèvres in Artikel 230 zwar die Verfolgung der Straftäter verlangt, die legalen Grundlagen aber nicht zur Verfügung gestellt wurden. Den Sachverhalt eines Völkermord festzustellen war noch relativ einfach, die Frage der persönlichen Schuld, bis dato die einzige Rechtgrundlage für Prozesse gegen Beschuldigte, verlangte hingegen nach handfesten Beweisen, schriftlichen Dokumenten oder Aussagen von Beteiligten, die die Briten in der Kürze der Zeit nicht erbringen konnten. [358]

Wichtige Dokumente waren zerstört, die Zusammenarbeit zwischen Briten und Türken in Istanbul äußerst gespannt. Die Kriegsgerichte hatten wohl genügend schriftliche Dokumente, die eine Anklage stützen konnten, aber sie waren verschwunden, als die Briten sie herausverlangten. „Warum die von den Militärgerichten gesammelten Dokumente den Briten nicht weitergereicht wurden“, schreibt Akçam, „und warum die Briten keinen Druck ausübten, sie zu bekommen, ist bis heute ungeklärt.“ [358]

In ihrer Beweisnot wandten sich die Briten an die Amerikaner, deren Diplomaten eine umfangreiche Dokumentation über den Völkermord zusammengestellt hatten. Doch auch das US-Material reichte nicht. „Die Amerikaner haben eine Menge Dokumente über die Deportationen und Massaker an den Armeniern“, schrieb der britische Botschafter in den USA, Sir Auckland Geddes, aber diese Dokumente sagten „mehr über die begangenen Verbrechen als über die betroffenen Leute.“ Er zweifle, „daß sie als Beweise gegen die auf Malta internierten Türken nützlich“ seien. Auch aufgrund der Liste der in Malta Internierten konnte Geddes in den amerikanischen Berichten keine konkreten Anklagepunkt gegen die Verdächtigen herausfinden. „Was wir aus den Unterlagen lernen können“, schrieb W. S. Edmonds von der Orientabteilung des britischen Außenministeriums, „ist, daß unsere Chancen, auch nur einen der Exilierten verurteilen zu können, gleich null ist.“ Franzosen und Italiener hatten sich an der Vorbereitung dieser Prozesse ohnehin nicht beteiligt. [360]

Harry H. Lamb, ein höherer Offizier im Büro des britischen Hochkommissars beklagte sich: „Solange es keine Kooperation oder einen Wunsch für gemeinsame Aktionen unter den Alliierten gibt, werden die Prozesse zu nichts führen und die direkten oder indirekten Mörder von eine Million Christen werden unbestraft bleiben. Ich wünschte, daß wir niemals eine Erklärung in dieser Sache abgegeben hätten.“ [360/61]

So kamen die Briten zu dem Schluß, die Nicht-Kooperation unter den Alliierten zwinge sie zu einem Ausgleich mit der Nationalbewegung, um einen Austausch der Gefangenen zu arrangieren. In Gesprächen mit den Briten hatten Vertreter der Nationalbewegung angeboten, die Schuldigen selbst zu bestrafen, allerdings nur vor eigenen Gerichten - vergleichbar den Bestimmungen im Versailler Vertrag mit den Deutschen. Der nationalistische Innenminister ging so weit zuzusagen, daß die in die Türkei zurückgebrachten Gefangenen „vom Hafen weg schnurstracks in die entsprechenden Länder geführt würden, wo sie für de Verbrechen vor Gericht gestellt würden, deren sie angeklagt“ seien. [362]

Am 23. Oktober 1921 wurde zwischen Briten und Nationalisten eine Vereinbarung in diesem Sinne unterzeichnet. Acht Tage später kamen die Exilierten in der Türkei an. Die meisten gingen sofort nach Ankara - wo sie Posten in der nationalistischen Regierung erhielten. [362]

Was aus ihnen wurde, beweist Taner Akçam an vielen Beispielen: Sükrü Kaya - einst der Kopf des Amtes für die Ansiedlung von Stämmen und Emigranten, dem die Deportation der Armenier unterstand - wurde Außen- und Innenminister sowie Generalsekretär von Mustafa Kemals Republikanischen Volkspartei. Mustafa Abdülhalik Benda, Provinzgouverneur von Bitlis und später Aleppo, der, so der türkische General Vehip Pascha, Tausende von Armeniern in der Musch-Region bei lebendigem Leibe verbrannt hatte, wurde Finanz- und Erziehungsminister, später Verteidigungsminister. [362]

Sie waren nicht die einzigen Verbrecher, die nunmehr hohe Staatsposten einnahmen. Abdulahad Nuri hatte in Aleppo - in Zusammenarbeit mit Mustafa Abdülhalik - große Reichtümer aus dem Armeniernachlaß angehäuft. Er war in Istanbul verhaftet worden und unter Anklage gestellt. Ein Zeuge - der Präfekt von Kilis - berichtete, wie Nuri die Vernichtungsbefehle erklärt hatte: „Ich hatte Talaat Bey kontaktiert und bekam von ihm persönlich den Vernichtungsbefehl. Es ist für die Sicherheit des Landes.“[363]

Abdulahad Nuri war der Bruder von dem Finanz- und später Außenminister der Nationalisten, Yusuf Kemal Tengirşenk. Der hatte dem Istanbuler Gerichtshof mitgeteilt, daß, wenn Nuri gehenkt würde, er mindestens zwei- bis dreitausend Armenier töten lassen würde. Kurz darauf wurde Nuri freigelassen. [363]

Dr. Tevfik Rüştü Aras war mit der Schwester von Dr. Nâzim verheiratet und arbeitete während des Krieges im Obersten Hygienerat. Vor Gericht präsentierte der Generaldirektor der Polizei, Mustafa Reşat ein Dokument, wonach er mit Tausenden von Kilogramm Kalk zu den Hinrichtungsstätten geschickt, um die Gruben mit den armenischen Opfern damit zu füllen und mit Sand zuzuschütten. Ein britischer Gefangener bestätigte dies für Urfa. Rüştü wurde einer der am längsten amtierenden türkischen Außenminister, ein Amt, das er von 1925 bis 1938 unter den verschiedenen republikanischen Regierungen innehatte. [363/64]

Arif Fevzi Pirinççizade, der mit dem Christenfresser Reşid Bey in Diyarbekir die Spezialorganisation aufgebaut hatte, war vom 21. Juli 1922 bis 27. Oktober 1923 Minister für das öffentliche Bauwesen. Ali Cenani Bbey, ein früherer Abgeordneter von Aintab, von dem selbst der türkische Historiker Bilâl Şimşir sagt: „Seine Akte in den britischen Archiven ist einfach vernichtend“, hatte sich an armenischem Besitz bereichert und bekleidete vom 22. Oktober 1924 bis 17. Mai 1926 den Posten des Handelsminister. Der Verteidiger vieler Angeklagter in Istanbul, Cemil Arif schließlich stieg zum Justizminister auf. „Die Liste könnte um Seiten erweitert werden“, schreibt Taner Akçam. [364]

Trotz einer ganzen Latte von territorialen und anderen Versprechungen, die den Armeniern von den Entente-Mächten gemacht worden waren, gingen die im Lausanner Friedensvertrag nicht nur leer aus, sie mußten sich auch noch erniedrigen lassen - von Türken und Briten. Als die armenischen Vertreter vor der Unter-Kommission für den Schutz der Minderheiten ihre Vorstellungen vortrugen, verließen die türkischen Vertreter den Raum. Die britischen Vertreter erklärten ihnen, „es gibt keine Verständigung unter den Alliierten, einige wollen die Türkei sogar mit Geld und Waffen unterstützen. Die armenischen Forderungen sind keine vitale Frage für die Alliierten, die sich mehr für den Ausgang der Meerengenstraßen interessieren. Die Alliierten wollen wegen der armenischen Frage ihre Beziehungen mit der Türkei nicht abbrechen.“ [365]

Ismet Inönü, der türkische Delegationsleiter, stellte in seinem Schlußstatement fest, was in der Türkei bis heute Staatsdoktrin ist: „Da sowohl die türkische Regierung als auch der türkische Staat gezwungen waren, Strafmaßnahmen zu ergreifen und eindeutig zu antworten, aber immer und ohne Ausnahme, nachdem ihre Geduld ausgeschöpft war, trifft die Schuld für die Katastrophe, die über die armenische Gemeinschaft kam, voll die armenische Gemeinschaft selbst. … Denn solange das christliche Element die Generosität des Landes, in dem es Jahrhunderte lang in Wohlstand und Reichtum lebte, nicht mißbrauchte, hatten die Türken ihnen ihre Rechte niemals verweigert.“ [366]

„Was den Armenier widerfahren war“, schreibt Akcam, „waren also ‚Strafmaßnahmen’“. Der Vertrag von Lausanne proklamierte eine Generalamnestie für alle politischen und militärischen Verbrechen, die zwischen dem 1. August 1914 und dem 20. November 1922 begangen wurden. Die Amnestie eines Völkermordverbrechens, von völlig uneinsichtigen Türken und zögerlichen, egoistischen bis feigen Alliierten gemeinsam beschlossen, war der Endpunkt des ersten völkerrechtlichen Ansatzes vom 24. Mai 1915, Genozide als Verbrechen gegen die Menschheit anzusehen, gleichgültig von wem, gegen wen und unter welchen Umständen begangen. Menschenrechte, von der Französischen Revolution 130 Jahre zuvor als universelles Gut proklamiert, degenerierten auch in der neuen Türkei innerhalb weniger Jahre zu einem unappetitlichen Bazargeschäft.

Kapitel 10: Warum die Nachkriegsprozesse scheiterten.

Der Berg kreißte, aber er gebar eine Maus - dieser Ausspruch des Ägypterkönigs Tachos nach seinem Sieg über den unbedeutenden Spartanerkönig Agesilaos ist für Taner Akçam die beste Beschreibung, um die osmanischen Nachkriegsprozesse zu charakterisieren. Höchsten Ansprüchen, „Verbrechen gegen die Menschheit“ mit den Mitteln eines universellen Rechts zu sühnen, folgten Machtspiele minderwertigster Qualität. „Eine ganze Reihe von Faktoren führten zu diesem Scheitern“, schreibt Akçam, „und bedeutsam ist, daß sie bis heute relevant bleiben.“ [368]

„Was wäre wohl passiert“, fragt Akçam, „wenn die Alliierten die Wichtigkeit des Nationalen Pakts und seinen territorialen Ansprüche akzeptiert hätten, wenn sie die Souveränität des Omanischen Staates anerkannt, dafür aber die Verfolgung jener verlangt hätten, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hätten?“ Und noch eine andere Frage stellt er: „Was wäre wohl passiert, wenn die Frage der Bestrafung der Türken nicht mit der Aufteilung Anatoliens verbunden worden wäre?“ Seine Antwort: „Dann hätte es wohl einen anderen Gang der Dinge mit den Istanbuler Prozessen gegeben.“ [369]

Auf Seiten der Alliierten schienen die Prinzipien anfangs klar zu sein. Sowohl US-Präsident Wilson als auch der britische Premier Lloyd George hatten die Respektierung des Prinzips der Souveränität des Osmanischen Staates versprochen. Wilsons 14 Punkte enthielten die Versicherung, daß der türkische Staat in jenen Gebieten errichtet werden solle, in denen die Mehrheit der Bevölkerung türkisch ist. Lloyd George hatte am 5. Januar 1918 festgestellt: „Wir kämpfen nicht, um den Türke ihre Hauptstadt zu nehmen oder die reichen und berühmten Gebiete, die von Menschen türkischer Rasse bewohnt sind, Landschaften wie Kleinasien oder Thrakien.“ [370]

Doch dann gestanden die Alliierten die Griechen die Besetzung Westanatoliens zu. „Als die alliierten Führer an ihre früheren Statements erinnert wurden“, so Akçam, „gaben sie vor, sie ‚vergessen’ zu haben. Die Teilung war ein mächtiger Schlag für die Verfolgung jener, die in den Völkermord an den Armeniern verstrickt waren.“ Bei den Briten hatte sich die Meinung durchgesetzt, die Türken müßten bestraft werden - die Türken, nicht die Täter. Der damalige britische Kriegsminister Winston Churchill kommentierte die Wende: „Die Rechtlosigkeit hat jetzt die Seite gewechselt. Die Gerechtigkeit ist nun ins andere Lage abgewandert.“ [370]

„Gleich nach dem Waffenstillstandsvertrag gab es klare Zeichen, daß die türkische Seite bereit war, die bittere Pille der Bestrafung der Täter zu schlucken“, schreibt Akçam, „um damit ihre Souveränität zu sichern. Als die Istanbuler Gerichtshöfe dann dazu übergingen, jene zu verfolgen, die für die Souveränität kämpften, brach der Prozeß zusammen.“ Nicht daß Ankara begierig drauf war, die Täter des Völkermords zu bestrafen, es wäre schlicht Realpolitik gewesen, das zu tun, wenn dadurch der Friedensvertrag günstiger ausgefallen wäre, so seine Argumentation. [371]

Aber Akçam sieht auch, daß Nationalstaaten wohl nicht in der Lage sind, eigene Verbrechen angemessen zu verfolgen. Erst wenn „Verbrechen gegen die Menschheit“ Bestandteil einer internationalen Strafrechtskonvention sein wird, ist das möglich - eine Erfahrung, die die Alliierten auch noch nach Zweiten Weltkrieg machten und die heute dazu führt, daß, wenngleich immer noch in Einzelfällen, sich das internationale Strafrecht in diese Richtung bewegt. Allerdings: wenn die Macht der internationalen Instanzen zur Durchsetzung der Völkermord-Verbrechensbekämpfung nicht ausreicht - auch dafür gibt es Beispiele aus der Gegenwart - dann könnten die Istanbuler Prozesse einen Weg aufzeigen, wie Gerechtigkeit bei Megaverbrechen auch im nationalen Rahmen möglich ist. [371/72]

Wenn ethnische oder religiöse Gruppen Opfer von Verbrechen werden, kompliziert sich die Lage noch mehr, wie die Situation in der Türkei zeigte. Die Bestrafung von Leuten, die die Nation repräsentierten, wurde als „nationale Demütigung“, als „Bestrafung einer ganzen Nation“ betrachtet, argumentiert Akçam. Je mehr Mitglieder eines Staates involviert sind, desto schwerer fällt der nationale Reinigungsprozeß. Halil Menteşe selbst mußte zugeben: „Die Anzahl von Türken in Anatolien, die mit den Deportationen nichts zu tun hatten, ist in der Tat gering.“ Was können wir unter „Schuld einer Nation“ verstehen, fragt Akçam, und wie kann ein solcher Begriff als legale Kategorie definiert werden? „Diese Frage bleibt unbeantwortet.“ [372]

Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weiterer Beleg für Akçams Fragestellung. Auch hier sprachen die Alliierten anfangs von einer Kollektivschuld der Deutschen, bevor sie diese Kategorie wieder ad acta legten. So kam es gar nicht dazu, juristisch einmal zu untersuchen, ob es nicht doch Kollektive gab, die eine Gesamtschuld auf sich geladen hatten - nicht nur Organisationen wie die SS, sondern auch die Armee generell, Ärzte oder Juristen, wenn nicht die deutschen Eliten allgemein. Nicht einmal die historische Zunft hat sich dieser Frage bis heute ernsthaft gewidmet, so bleiben es Einzelne, die beispielsweise die „furchtbaren Richter“ als Kollektiv publizistisch anklagten.

„Eine Übereinkunft unter den Weltmächten ist unabdingbare Voraussetzung für das Vorgehen gegen Täter solcher Menschheitsverbrechen“, schreibt Akçam, „und das fehlte beim Völkermord an den Armeniern. Denn die alliierten Mächte hatte im Nahen Osten widerstreitende Interessen.“ Großbritannien hatte Frankreich von den Waffenstillstandsverhandlungen mit der Türkei ausgeschlossen und nahm sich Gebiete, die Frankreich zugesagt waren, Beide zusammen erlaubten Griechenland Gebiete zu besetzen, die zuvor den Italienern als Einflußzonen zugestanden waren. Dadurch konnte es nicht zu gemeinsamen humanitären Schritten kommen. [373]

Vielmehr kam es dadurch zu der grotesken Situation, daß die einzelnen Länder sehr früh um die Gunst der türkischen Nationalisten buhlten und separate Übereinkünfte abschlossen, während die Amerikaner von ihren hehren Prinzipien abrückten und alle zusammen ihre Versprechungen gegenüber den Armeniern brachen. Jeder Türke, so der türkische Historiker Nur Bilge Criss, „hatte die Meinung, daß die Italiener die ‚noblen Besatzer’ waren, die Franzosen ‚harmlos’, die Amerikaner von ‚reinem und verläßlichem Charakter’, während die Briten die ‚Feinde’ waren.“ [373]

Die Italiener schleusten auf ihren Schiffen gesuchte Nationalisten ins sichere Inland, Franzosen und Italiener besorgten den gesuchten Tätern Pässen, mit denen sie sich legal bewegen konnten, Italiener lieferten der Nationalbewegung Waffen, Franzosen versorgten die Leute um Mustafa Kemal mit Geheimdienst-Informationen über die Bewegungen der Griechen. So blieben die Briten allein in ihrem Versuch, die türkischen Völkermörder zu bestrafen, bis sie nach 1920 ebenfalls mit der Nationalbewegung anbändelten und sogar den prominentesten türkischen Ankläger gegen die Genozidtäter, Damat Ferid Pascha, zum Rücktritt zwangen. [374]

Die Krux humanitärer Interventionen ist allzu oft, daß sie in innenpolitische Überlegungen eingebettet sind, wenn sie nicht sogar von ihnen beherrscht werden. Der liberale britische Parlamentarier William Summer sagte es 1890 einmal sehr offen: Gladston und ich, wir kümmern uns nur deshalb so sehr um die armenische Frage, um damit das Kabinett Salisbury in Schwierigkeiten zu bringen.“ [375]

Weil die Westmächte die Begriffe „Menschenrechte“ und „Demokratie“ oft gebraucht hätten, um eigene imperialistische Ziele zu kaschieren, so Akçam, betrachteten die Türken diese Argumente als „westliche Heuchelei“. „Über die spezifischen historischen Gründe hinaus“, so Taner Akçams Schlußwort, „bestehen die fundamentalen Probleme, die hinter dem Scheitern lagen, die Übeltäter des Völkermords an den Armeniern vor Gericht zu bringen, bis heute fort.“ [376]

Nachwort:

Taner Akçams Arbeiten gehören zu den wichtigsten zum Thema Völkermord an den Armeniern 1915/16 überhaupt. Denn er verarbeitet nicht nur die westlichen Quellen - die deutschen inklusive, die von den anglophonen Wissenschaftlern wegen mangelnder Sprachkenntnis nur selten eingearbeitet werden -, sondern vor allen die türkischen und osmanischen, die letzteren lesen zu können ist selbst für Türken eine Seltenheit geworden. Und als Türke, auch wenn er sei Jahrzehnten in Deutschland und den USA lebt, ist ihm nicht nur die für Nicht-Türken oft sonderbare Sehweise der nationalistischen türkischen Forschern bekannt, die in der Türkei und zunehmend auch in Deutschland die einseitige türkische Sicht monopolisiert haben, er kann auch rational und vor allem emotional Argumentationsketten nachvollziehen und sodann kritisch bewerten, die westliche Forscher schnell als Propaganda abtun. Taner Akçam hat mit seinem Original, das seit 1999 in der Türkei mehrere Auflagen erlebte, die dortige Diskussion belebt, wenn nicht sogar angeregt, die sich langsam zu einer differenzierteren Betrachtung des Völkermord entwickelt. Heute noch verfemt und teils brutal angegriffen, ist es sehr wahrscheinlich, daß Taner Akçam eines Tages auch in der Türkei als der Pionier einer sauberen türkischen Aufarbeitung der jungtürkischen Vergangenheit anerkannt werden wird. Sein Buch ist deshalb ein Meilenstein auf diesem Weg - besonders wichtig für die jungen Deutschen türkischer Herkunft und Türken in der Bundesrepublik, die sich extrem schwertun, sich von der staatlich gelenkten Darstellung in ihrer Heimat oder der Heimat ihrer Väter zu lösen. Erst wenn die Quellen so neutral wie möglich gelesen und interpretiert werden, wird der künstlich aufgebauschte Antagonismus zwischen „türkischer“ und „armenischer“ Sicht einer Darstellung weichen, die politisch eine Voraussetzung für eine Versöhnung zwischen Armeniern und Türken, wenn nicht für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft ist. Der Vertrag von Lausanne ist mit Sicherheit nicht rückgängig zu machen, der Geist wichtiger Passagen dieser Übereinkunft hingegen schon.