Wolfgang Gust

Veröffentlichungen: Wer manipulierte die Dokumente in „Deutschland und Armenien“?



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Jeder, der über den Völkermord an den Armeniern arbeitet, kennt das Standardwerk „Deutschland und Armenien 1914-1918- Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ von Johannes Lepsius. Es enthält neben einem redaktionellen Teil von Lepsius selbst insgesamt 444 Akten des deutschen Auswärtigen Amts zum Thema Völkermord 1915/16 und seine Folgen sowie zum Vormarsch der türkischen Armee in den Kaukasus und den damit verbundenen weiteren enormen Verlusten des armenischen Volkes.

Diese von Lepsius herausgegebene Sammlung von Dokumenten ist in mehrfacher Beziehung bemerkenswert. Einmal ist es die einzige Herausgabe offizieller deutscher Akten des Ersten Weltkriegs, noch dazu sogleich nach Kriegsende. Zum anderen wird in ihnen der Völkermord an den Armeniern in einer Weise dokumentiert, die keinen Zweifel an der Faktizität dieses Genozids mehr zuläßt.

Die Dokumentensammlung von Lepsius hat aber einen Haken, genauer gesagt sogar zwei. Der eine - publizistisch sehr bedeutsame - ist, daß die Akten niemals in Englisch oder Französisch veröffentlicht worden sind, obwohl das Auswärtige Amt alle von Lepsius publizierten Akten in beide Sprachen übersetzen ließ. Weil nur wenige nicht-deutschsprachige Forscher sie lesen konnten, wird der Band im Literaturverzeichnis englischsprachiger Bücher und Artikel über den Völkermord zwar immer angeführt, Dokumente aber nur selten zitiert.

Der andere Haken der Lepsius-Dokumente ist, daß ein großer Teil der veröffentlichten Akten nicht den Originalen entspricht. Schon vor etwa zehn Jahre verlangte der Schweizer Historiker Dinkel, der über die deutschen Militärs geforscht hatte, daß endlich eine revidierte Lepsius-Ausgabe erstellt werden müsse, in der die Veränderungen kenntlich gemacht werden. Dieser Aufgabe hatte ich mich unterzogen und vor fast zwei Jahren 420 revidierte Lepsius-Dokumente veröffentlicht, allerdings eher intern und nur für einige Spezialisten.

Mit der Veröffentlichung im Internet wird das nun hoffentlich anders sein. Meine Frau und ich stellen nunmehr nicht nur praktisch alle Dokumente mit sämtlichen oftmals politisch bedeutenden Anhängen sowie Kommentaren der Politiker und Sachbearbeiter des Auswärtigen Amts zur Verfügung, sondern alle wichtigen Texte auch in Englisch. In Kürze werden wir weitere etwa 500 Dokumente des deutschen Auswärtigen Amts zum Völkermord an den Armeniern veröffentlichen – es sind jene Akten, die bei Lepsius keine Berücksichtigung gefunden haben. Eine weitere Genozid-Edition und eine über den Kaukasus sind in Vorbereitung. Alle bedeutsamen Dokumente werden dabei ins Englische übersetzt werden.

Ich möchte besonders auf die Frage eingehen, wer diese Manipulationen vorgenommen hat. Die Verantwortung für die Authentizität der Dokumente hat - in seinem Vorwort - ausdrücklich Lepsius übernommen, und er tat es wohl mit gutem Gewissen. Nur hat er sich damit einen Bärendienst erwiesen. Um das Ergebnis unserer Forschungen vorweg zu nehmen: Nicht Lepsius hat die wichtigsten Manipulationen vorgenommen, sondern das deutsche Auswärtige Amt. Und das Kuriose an der ganzen Sache ist: Lepsius hat – fast – nichts davon gemerkt.

Auf die Fährte der Fälschungen hat uns ein unscheinbares handschriftliches Dokument im Auswärtigen Amt gebracht, das einen erstaunlichen Inhalt hatte. Es handelt sich um eine Notiz des nach Berlin zurückgekehrten früheren kaiserlichen Konsuls in Aleppo, Walter Rößler. Der hatte am 26. Mai 1919 verfügt: ”Die beifolgenden Materialien zur Herausgabe des Buches Deutschland und Armenien, herausgegeben von Dr. Johannes Lepsius, sind aufzubewahren.” Darüber hin­aus hatte Rößler angeordnet, daß diese Materialien nach einem Jahr dem Geheimen Legationsrat Göppert wieder vorzulegen seien für die Entscheidung ”ob zu vernichten. Es sind viele Zifferntelegramme darunter”.

Wie es sich für eine ordentliche Behörde gehört, wurden nach einem Jahr die Materialien wieder vorgelegt. Der bearbeitende Beamte - Göppert war inzwischen Gesandter in Helsinki - kontaktierte Lepsius und notierte: ”Die beiliegenden Materialien werden nach Angabe des Dr. Lepsius nicht mehr benötigt”. Sodann traf der Beamte folgende Verfügung: „1. Das Zentralbüro wolle die Materialien noch einmal daraufhin durchsehen, ob sich keine Urschriften darunter befinden. 2. etwa vorhandene Urschriften sind zu den Akten zu bringen. 3. der Rest ist durch Feuer zu vernichten.“ Der Beamte Walter Bölsing von der Geheimen Registratur meldete kurze Zeit drauf Vollzug: ”Die­ses Material ist laut Verfügung vom 18. VI. 20. verbrannt worden.”

Das war nun wirklich bemerkenswert: Die Unterlagen der einzigen quasi-offiziellen Aktenpublikation des Auswärtigen Amts über den Ersten Weltkrieg wurden nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der Dokumente verbrannt. Uns kam sofort der Verdacht, daß das Auswärtige Amt hier etwas zu verbergen hatte.

Doch was genau wurde verbrannt? Denn die Originale der Akten, die Lepsius verwendet hatte, befinden sich heute noch im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. Auch dazu sagt die Notiz etwas aus. Denn das zur Stellungnahme aufgeforderte Zentralbüro schrieb unter dem 21.6.1920 zur Bitte der Prüfung, ob sich Urschriften unter dem Material befänden: ”Urschriften waren nicht unter dem Material. Die Abschriften werden demnächst verbrannt werden.” Die vom Amt aufbewahrten Unterlagen waren also Abschriften. Mit anderen Worten: Lepsius hat seine Dokumentation oder zumindest den größten Teil anhand von Kopien erstellt.

Da sich Lepsius zur Zeit der Arbeit an „Deutschland und Armenien“ noch in Holland aufhielt, war es normal, daß das AA ihm nur Abschriften zustellte. Kein Zweifel besteht daran, daß Lepsius genau wußte, daß es sich um Abschriften handelte, denn die Originale unterscheiden sich in sehr vielen Kriterien eindeutig von Abschriften.

Da die von Lepsius verwendeten Abschriften nicht mehr vorhanden sind, war die für uns entscheidende Frage nun, ob diese Kopien für Lepsius etwa manipuliert worden waren. Die Antwort findet sich in dem vor kurzer Zeit von Professor Goltz als Mikrofilmedition herausgegebene Lepsius-Nachlaß. Denn dort befindet sich eine ganze Reihe von Dokumenten des Auswärtigen Amts, die wir größtenteils kannten. All diese Schriftstücke waren ohne Ausnahmen Abschriften. Ein Vergleich dieser Abschriften mit den Originalen ergab nun, daß viele von ihnen manipuliert worden waren – und zwar nach dem gleichen Schema wie die von Lepsius herausgegebenen Akten.

Nun hätte es ja gut sein können, daß Lepsius sehr wohl wußte, daß seine Unterlagen nicht nur Kopien waren, sondern manipulierte Kopien. Doch das ist sehr unwahrscheinlich. Denn er war ungehalten darüber, daß das Auswärtige Amt ihm den Abdruck bestimmter Dokumente in „Deutschland und Armenien“ nicht gestattete und legte sie deshalb beiseite, um sie – zum Teil Jahre später – in seiner Zeitschrift oder als Flugblatt zu veröffentlichen. Zu dieser Zeit hatte Lepsius schon Streit mit dem Auswärtigen Amt und keinen Grund mehr, auf das AA Rücksicht zu nehmen. Trotzdem veröffentlichte er die Dokumente in der vom Auswärtigen Amt verfälschten Form – ein ziemlich starker Beleg dafür, daß Lepsius die Manipulationen gar nicht bemerkt hatte.

So unglaublich es klingen mag, so wahrscheinlich ist es: Johannes Lepsius hat den für einen Quellen-Historiker unverzeihlichen Fehler gemacht, die ihm als Kopien zugeschickten Schriftstücke nicht mit den Originalen zu vergleichen. Gelegenheit dazu hätte er mehrmals gehabt, denn er war häufiger in Berlin und im Auswärtigen Amt. So verständlich es ist, daß er in Holland nicht mit den Originalen arbeiten konnte, so unverständlicher ist dieser Fauxpas.

Für dieses Fehlverhalten gibt es keine Entschuldigung, wohl aber Gründe. Denn Lepsius hat seine ganze Kraft auf das verwendet, was für alle Zeiten mit seinem Werk verbunden bleiben wird: den Völkermord an den Armeniern anhand staatlicher deutscher Quellen zu dokumentieren. Das Auswärtige Amt war nämlich keineswegs an diesem Aspekt der Dokumentation interessiert und es bedurfte schon großer Kämpfe von Lepsius, dieses Ziel zu erreichen. Das belegen mehrere Briefe sowohl im Auswärtigen Amt als auch im Lepsius-Archiv.

Noch in Holland hatte Lepsius zu dem späteren AA-Staatssekretär, dem Orientalisten und Indologen Wilhelm Heinrich Solf, Kontakte geknüpft. Als der langjährige Leiter des Reichskolonialamts im Oktober 1918 zum Staatssekretär des Äußeren aufstieg und die Waffenstillstandsverhandlungen leitete, wurde er für Lepsius zum Schlüsselmann im Auswärtigen Amt.

Neun Tage nach dem Waffenstillstand, am 20. November 1918, schrieb Lepsius an Solf einen Brief, in dem er sich als ”Delegierter für Fragen des Orients, speciell für Armenien” für die Friedensverhandlungen in Paris anbot: ”Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass ich nahezu der einzige Deutsche bin, der auch jetzt noch das volle Vertrauen des armenischen Volkes und seiner Führer, der türkischen sowohl als auch der Kaukasischen, besitzt”. ”Antrag ist ernstlich zu prüfen”, schrieb Solf an das Schreiben, ”Lepsius gilt im Ausland!”.

Zwar wurde es nichts mit der Beraterrolle bei den Friedensverhandlungen, doch Solf und Lepsius wurden sich schnell über ein anderes Projekt einig. Der im Ausland besonders von den Armeniern hochgeschätzte Lepsius habe den Auftrag erhalten, notierte der Legationsrat Otto Göppert am 14. Dezember 1918, „das Aktenmaterial über die Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage zu veröffentlichen“. Einige Dokumente wolle er „in einer Vorrede zu seiner Schrift über die Armenierverfolgungen“ abdrucken. Dann solle „eine Zusammenstellung von Aktenstücken ohne begleitenden Text folgen“.

Das Auswärtige Amt hatte für das Dokumentenwerk eine eindeutige politische Zielvorgabe: Es sollte Deutschlands Ausgangslage bei den anstehenden Friedensverhandlungen in Paris, die schließlich in den Versailler Verträgen mündeten, in einem für Deutschland günstigen Sinn beeinflussen. Denn während des ganzen Krieges hatten besonders die angelsächsische und französische Presse, aber auch Politiker immer wieder Deutschland beschuldigt, den Völkermord an den Armeniern mitverantwortet, wenn nicht initiiert zu haben. Diese Anschuldigungen sollten durch die Herausgabe der Akten widerlegt werden. Der bekannte Armenierfreund Johannes Lepsius sollte dafür bürgen, daß diese Botschaft im Ausland auch ankam.

Auch Lepsius war klar, daß sein Werk in erster Linie der politischen Werbung dienen müsse. „Der grössere Teil ist ja zur Verbreitung zu Propagandazwecken bestimmt“ schrieb Lepsius-Sekretär Richard Schäfer im Juni 1919 über die Verwendung der gedruckten Bände. Für das Auswärtige Amt sollte einzig die „Frage der deutschen Schuld“, wie Göppert sie nannte, genauer ihre Zurückweisung durch die von Lepsius zu veröffentlichen Dokumente, der Hauptzweck der Veröffentlichung „Deutschland und Armenien“ sein. Das sah auch Lepsius so. Er habe den Grundsatz befolgt, schrieb er später, „bei der Auswahl nur den Zweck der Entlastung Deutschlands von türkischen und internationalen Verleumdungen im Auge [zu] behalten“.

Doch Lepsius verfolgte noch ein ganz anderes Ziel: Die Faktizität des Völkermords an den Armeniern zu dokumentieren, indem er die zum Teil sehr präzisen Berichte deutscher Diplomaten und Augenzeugen veröffentlichte. Über die Auswahl der Texte kam es deshalb schon sehr bald zum Streit zwischen den unteren Chargen des Amts und Lepsius.

„Hätte ich nicht von der Solf’schen Erlaubnis rücksichtslosen Gebrauch gemacht“, beschwerte sich Lepsius in einem Privatbrief über Göppert, „wäre nicht die Hälfte der wichtigen Aktenstücke ans Licht gekommen. Der betreffende Geheimrat, mit dem ich anstandshalber auf gutem Fuss blieb, versuchte immer, mir die Rosinen aus dem Kuchen herauszupolken, denn er wollte immer noch bei den Türken einen Stein im Brett behalten, die Hauptmissetäter scho­nen und auch das türkische Ungeziefer aus der Perücke der Botschafter herauskämmen.“ In „Deutschland und Armenien“ habe Lepsius, nach den Worten von Göppert, „unsere Verteidigung ohne Rücksicht auf die Türken geführt“. Lepsius selbst beschrieb seine Aufgabe in dem Brief so: „Es war eine Kunst zwischen den vier Fronten, Entlastung Deutsch­lands, Belastung der Türkei, Reservebedürftigkeit des Amtes und Vertrauensgewinnung der Armenier“.

Dabei mußte er zwangläufig die Schuld der Türken aufdecken, denn, so Lepsius, „es war selbstverständlich nicht möglich, die Mitschuld Deutschlands an den notorischen Massenmorden von Männern, Frauen und Kindern restlos zu entkräften und zugleich die Vorgänge selbst mit dem Schleier der Liebe zu bedecken.“ Das Ergebnis seiner Arbeit sah Lepsius einigermaßen positiv. Mehrere deutsche Diplomaten, schrieb er, die „auch menschliche Töne hören liessen, reissen so die Sache vor dem Gewissen der Menschheit, soweit als möglich heraus. Sogar unsere Militärs kommen noch zu Ehren.“ Allerdings mußte auch Lepsius eingestehen: „Alles in allem bleibt das Ergebnis dennoch grauenhaft.“

Der Briefwechsel belegt bereits, daß die Rolle der Deutschen in positivem Licht dargestellt werden sollte. Und in der Praxis hieß das, daß alle Akten-Stellen, in denen die Deutschen kompromittiert werden, aus den Dokumenten herausgenommen werden mußten. Das betraf in erster Linie Aktionen deutscher Militärs gegen armenische Zivilisten. Sie sind an mehreren Stellen in den Originalen bezeugt, fehlen aber in „Deutschland und Armenien“. Der Einsatz des deutschen Artillerie-Offiziers Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg sowohl in Urfa als auch in Zeitun sowie am Musa Dagh gehört dazu. In „Deutschland und Armenien“ hingegen kommen deutsche Offiziere und Soldaten nur als Helfer der Armenier vor, allenfalls noch als neutrale Beobachter.

Eine Verwicklung deutscher Offiziere in den internen Kampf gegen die Armenier beschrieb beispielsweise Scheubner-Richter, als er aufgefordert wurde, mit seinen Leuten gegen ein armenisches Dorf vorzugehen, was er unter Ausreden vermeiden konnte. Allein die Tatsache, daß deutsche Offiziere die Möglichkeit zu solchen Eingriffen hatten, war Göppert & Co offensichtlich unangenehm und sie strichen die entsprechenden Passagen. Da gleiche gilt für wiederholte Anweisungen Wangenheims an seine Konsuln, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türken einzumischen und Einwände allenfalls in der Form freundlicher Ratschläge vorzubringen, auf jeden Fall aber den Eindruck zu verhindern, es handele sich dabei um eine offizielle Demarche.

Außenpolitisch schädlich mußten für das Auswärtige Amt auch die häufigen rassistischen Äußerungen deutscher Diplomaten sein und Ansichten, die klar auf einen deutschen Weltmachtanspruch zielten. Sie alle fehlen nicht nur in den in „Deutschland und Armenien“ veröffentlichten Dokumenten, sondern auch in den Abschriften des Lepsius-Archivs - sie sind folglich bereits vom Auswärtigen Amt vorgenommen worden.

Eine andere Art von Manipulation könnte auf Lepsius zurückgehen. Aus Rücksichtnahme den Armeniern gegenüber fehlen mehrfach besonders grausame Schilderungen der Not, in der sich die Armenier befanden – daß sie kurz vorm Verhungern beispielsweise auch das Fleisch gestorbener Glaubensbrüder gegessen hatten. Auch sind Äußerungen von Armeniern gestrichen worden, die Verfolgungen der Armenier sei nur deshalb möglich gewesen, weil die Deutschen sie stets gedrängt hätten, sich loyal zur türkischen Regierung zu verhalten. Diesem Rat seien sie gefolgt und hätten in der Folge keine Waffen mehr gehabt, sich zu wehren, beschwert sich beispielsweise ein armenischer Geistlicher. In diesem Sinne war aber auch Lepsius politisch tätig gewesen und hatte anfangs die armenischen Verantwortlichen in Konstantinopel zum Stillhalten aufgefordert.

Die von Lepsius vorgenommenen Änderungen sind in einer im Lepsius-Archiv befindlichen handschriftlichen Kladde, die er zum Verfassen des Vorworts angefertigt hatte, ganz gut nachzuvollziehen. Da ist einmal die Lepsius-Unart des Nachredigierens. Wenn er meinte, der Autor habe sich nicht präzise genug ausgedrückt, verbesserte er schon einmal den Wortlaut, in der Regel aber, ohne den Sinn zu verfälschen. Änderungen dieser Art kommen in „Deutschland und Armenien“ sehr häufig vor und finden sich auch in den zurückbehaltenen Akten als handschriftliche Korrekturen.

Auch andere Streichungen gehen auf das Konto von Lepsius, was aus den handschriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht. So notierte er ausdrücklich den Ort Fundadjak, in dem die armenische Bevölkerung sehr wahrscheinlich mit deutscher Hilfe zusammengeschossen worden war. Dieser Ort ist in dem von Lepsius in „Deutschland und Armenien“ veröffentlichten Dokument 193 nicht mehr vorhanden.

Eines zeigt allerdings der umfangreiche Schriftwechsel von Lepsius mit politischen Freunden: Politisch waren seine Vorstellungen denen des Auswärtigen Amts sehr nahe, wie überhaupt die politische Klasse, der Lepsius angehört, sich ausgesprochen nationalistisch gab. Sie alle, Lepsius eingeschlossen, beklagten laut den angeblichen Diktatfrieden von Versailles, verloren aber kein Wort über den viel brutaleren Friedensvertrag von Brest-Litowsk, denn den hatten die Deutschen diktiert. Lepsius war sich politisch mit seinem engen Freund Paul Rohrbach einig, den der Weltkriegs-I-Historiker Fritz Fischer zu den gouvernementalen Imperialisten zählt. Als Belgien einverleibt worden war, hielt Lepsius im Oktober 1915 einen vertraulichen Vortrag vor ausgesuchten Journalisten der Berliner Presse. Über diesen Vortrag fertigte die Redaktion der ”Magdeburgischen Zeitung” ein nicht veröffentlichtes Protokoll an. ”In der Besprechung”, hieß es dort, ”wurde die grosse Gefahr für unser Wirtschaftsleben und für unseren Zukunftsplan Antwerpen-Bagdad hervorgehoben. Der Türke ist, wie ja bekannt, ein Nichtstuer, deshalb spielen Andere in seinem Lande solche Rolle, dass er sich dabei nicht wohl fühlt; aber er kann sie doch nicht ersetzen und das ist für uns wichtig. Die Armenier sind die geschäftstüchtigsten Elemente gerade an der anatolischen und Bagdadbahn, oder sie waren es.” Lepsius fand die Einverleibung Belgiens völlig normal und erweiterte Berlin-Bagdad flugs auf Antwerpen-Bagdad.

Politisch wäre das Auswärtige Amt bei bestimmten Auslassungen möglicherweise gar nicht auf Widerstand bei Lepsius gestoßen. Als Beispiel kann der Bericht des deutschen Konsuls Wilhelm Litten gelten, der auf seiner Reise von Bagdad nach Aleppo tagebuchartige Notizen anfertigte und diese seinem Kollegen in Aleppo, Walter Rößler, zur Verfügung stellte. Diesen Bericht hätte Lepsius offensichtlich gern in „Deutschland und Armenien“ aufgenommen, wurde aber von Göppert daran gehindert. „Im Orient veröffentlichen“ schrieb Lepsius mit dickem Stift auf das Manuskript, und tatsächlich publizierte er den Bericht in seinem Blatt und auch als Flugblatt.

Das Fazit Littens zu seinem langen Bericht war vom Auswärtigen Amt fast auf die Hälfte zusammengestrichen, was Lepsius ganz offensichtlich nicht bemerkte. In dem Teil, in dem Litten vorschlug, die Armenier, statt sie verhungern zu lassen, besser zum Straßenbau einzusetzen, strich das AA den Satz: „In Persien tragen unsere Landsleute ihre Haut zu Markte und warten mit leeren Patronengurten sehnlichst auf die Munition, die bei den jämmerlichen türkischen Etappenverhältnissen irgendwo zwischen Konstantinopel und Bagdad in einer überverstopften Etappe festliegt“. Nicht gestrichen hatte das AA eine andere Passage viele Seiten zuvor, in der Litten von 20 Ochsenwagen berichtete, die mit Frauen, Kindern und Hausrat beladen waren und dann anmerkte: „Könnte man die Wagen nicht besser für Munitionstransporte gebrauchen?“. Diesen Satz, das geht eindeutig aus der Kladde hervor, strich nunmehr Lepsius. Die Kriterien des Auswärtigen Amts und die von Johannes Lepsius für Manipulationen dieses Dokuments waren also identisch.

Trotzdem trauten die Verantwortlichen des Auswärtigen Amts Lepsius offensichtlich nicht so ganz und manipulierten lieber selbst. Eine Streichung wirft ein besonderes Schlaglicht auf die Zusammenarbeit, denn in diesem Fall strich das AA nicht nur, sondern versuchte offensichtlich auch, Spuren der Verantwortung zu verwischen. In einem Privat-Brief wunderte sich Lepsius über den Tatbestand, daß der Reichskanzler nur ein einziges Mal, und zwar auf Intervention der deutschen kirchlichen Kreise, zum Genozid an den Armeniern Stellung genommen habe. Es gibt aber eine weit wichtigere Äußerung Bethmann Hollwegs, von der Lepsius offensichtlich nichts wußte. Denn vom Kanzler selbst stammt die - in „Deutschland und Armenien“ fehlende - klare Anweisung, auf die Armenier keine Rücksicht zu nehmen. „Unser einziges Ziel ist“, hatte Bethmann Hollweg an einen Bericht Wolff-Metternichs geschrieben, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“. Es war die Antwort auf eine Aufforderung des deutschen Botschafters, öffentlich den Völkermord anzuprangern. Lepsius hatte den Bericht - allerdings in tendenzieller und sehr verkürzter Form - veröffentlicht, nicht aber die zustimmenden Bemerkungen des Unterstaatssekretärs Zimmermanns und des AA-Chefs Jagow, und erst recht nicht die harsche Ablehnung des Kanzlers.

Der Wortlaut dieser Ablehnung befindet sich aber unter den AA-Kopien im Lepsius-Archiv, allerdings mit einem falschen Absender. Als Autor stand unter den wortwörtlichen Einlassungen Bethmann Hollwegs (und nur die waren wiedergegeben worden) das Kürzel „U.St. (Z.)“ - also der Unterstaatssekretär Zimmermann. Möglicherweise wollte das AA dem Fall vorbeugen, daß Lepsius die Fälschung bemerkt und sich dann mit Irrtum herausreden. Lepsius reagierte aber offensichtlich gar nicht auf diesen Kernsatz zur deutschen Armenien-Politik, der auch dann außerordentlich gewesen wäre, wenn er „nur“ von Zimmermann gestammt hätte. Offenbar war auch Lepsius entschlossen, die deutsche Rolle zu vertuschen.

Der Inhalt von „Deutschland und Armenien“ teilt sich grob auf in die drei Bereiche „Genozid 1915/16, Hilfsmaßnahmen der Deutschen zugunsten der Armenier und Kaukasus-Feldzug. Zum Genozid 15/16 konnte das Auswärtige Amt Lepsius nichts vormachen, denn da kannte er sich sehr genau aus, wie seine später unter dem Titel „Todesgang des armenischen Volkes„ veröffentlichte Schrift an die deutschen Pfarrämter belegt. Die deutsche Rolle zu vertuschen wäre Lepsius allenfalls bereit gewesen, nicht aber den Völkermord.

Anders war das mit dem Kaukasuskonflikt. Über die Vorgänge dort – besonders im letzten Kriegsjahr - war Lepsius kaum informiert. So war es für das Auswärtige Amt ein Leichtes, ihn mit ausgewählten Dokument-Passagen in die Irre zu führen. Endlich nahm sich nun das Deutsche Reich der Armenier an, so ist der Eindruck aus „Deutschland und Armenien“, und war selbst zu Zusammenstößen mit den Türken bereit, um die Armenier zu beschützen. In Wahrheit verfolgte das Reich im Kaukasus eine knallharte Wirtschafts- und Militärpolitik, wie die Originale belegen. Hauptziel war der Zugriff auf die Rohstoffe der Region, besonders das Erdöl von Baku. Die Armenier spielten für die Deutschen deshalb eine Rolle, weil sie in Baku das Sagen hatten, also mußten die Deutschen auf sie Rücksicht nehmen. Und für die Militärs zählte vor allem die Aussicht auf einen Heeres-Korridor durch Persien ins Herz des britischen Weltreichs – Indien. Deshalb waren die deutschen Militärs scharf auf die Kontrolle der Eisenbahnstrecken durch Armenien und machten sich dafür stark. In Verfolgung dieses Ziels nahm die Reichsleitung auch Scharmützel mit den Türken in Kauf. Oft nur aus Nebenaspekten bastelten Göppert & Co für das Aktenwerk die scheinbare Anteilnahme für die gejagten Armenier, die der Armenierfreund Lepsius offensichtlich für die Wirklichkeit hielt und dankbar aufnahm.

Im Dokument 436 zum Beispiel sorgt sich der Leutnant Eisenmann, der deutsche Vertreter in Jerewan über das Schicksal armenischer Gefangener. Das tat er in einem Nebensatz in der Tat. Hauptsächlich aber zieht er in kaum zu überbietender Arroganz über die Armenier her. Er tut seine Meinung kund, das armenische Volk sei "genau so ungebildet, roh und brutal wie die von den Armeniern stets so niedrig eingeschätzten Tataren". An anderer Stelle schildert er die Armenier als "unzuverlässig und faul", außerdem gäbe es unter ihnen "keine wirklich und allgemein Gebildete in unserem Sinne". Wegen ihrer "angeborenen Trägheit" seien sie "kulturellen Fortschritten nicht zugänglich".

Im Dokument 419 scheint die Sorge um die Armenier im Vordergrund zu stehen, wenn Hindenburg sich „als Christ für die Errettung von 500000 Glaubensgenossen vom sicheren Hungertod“ einsetzt. In Wahrheit ging es auch hier ums Erdöl aus Baku. „Als Gegenleistung werden sich von den in Baku befindlichen Armeniern voraussichtlich Zugeständnisse auf dem Gebiet der Öllieferungen aus den Bakuer Vorräten erreichen lassen“, hatte Hindenburg geschrieben und das AA in der Aktensammlung gestrichen. Der deutsche General und Leiter des türkischen Generalstabs von Seeckt antwortete, Baku sei in der Hand der Armenier und fügte hinzu: „Eine Verbindung der Armenier mit den Engländern ist offenkundig. In diesem Augenblick dürfen wir uns der Armenier nicht annehmen, sondern müssen sie als Feinde betrachten“. Zwar traten die Generäle Lossow und Kreß von Kressenstein weiterhin für die Armenier ein, aber aus wohlverstandenem deutschen Interesse.

Die Manipulationen in „Deutschland und Armenien“ und selbst die Umkehrungen der Aussagen in manchen Dokumenten dürfen nicht den Blick dafür verstellen, daß der Lepsius-Band bis heute eines der wichtigsten Werke, wenn nicht das wichtigste für den Völkermord an den Armeniern war und ist. Das wird sich auch durch unsere revidierte Fassung nicht ändern. Lepsius war ein authentischer Freund der Armenier und hat so viel für sie getan, wie es damals möglich war. Daß er blauäugig war, in nationalen Dingen auch einäugig, mindert in nichts sein Engagement und noch weniger seine Wirkung.

Lepsius wußte, daß er ein Teil der deutschen Propaganda war, und das stört ihn auch nicht. Er wollte werben, ein bißchen für sich, weit mehr noch für Deutschland. Das Auswärtige Amt hatte verschiedene andere Propaganda-Publikation – auch von Lepsius - schließlich gestoppt, weil besonders die englische, aber auch die skandinavische Presse nicht so auf „Deutschland und Armenien“ reagierte, wie sich das die deutschen Propagandisten erhofft hatten. Die langen Jahre der Isolation, der durch den vermeintlichen Diktatfrieden von Versailles immer heftiger aufkommende Nationalismus und ein aus heutiger Sicht schwer verdaulicher Kulturdünkel hatten die Deutschen blind gemacht für berechtigte Kritik von außen, das galt auch für Lepsius.

Aber die Verantwortung für die Fehler der Quellenedition „Deutschland und Armenien“ allein dem Herausgeber Johannes Lepsius aufzubürden - so habe ich in meinem Internet-Aussatz über ihn geschrieben und will es gern hier wiederholen -, wäre der denkbar schlechteste Ansatz für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit im Osmanischen Reich. Für die Armenier war und ist Lepsius eine Ikone, und er war und ist es zu Recht - eine Ikone mit Farbfehlern sicher, aber dennoch eine Ikone von hohem Wert.

[Gekürzte Fassung des Artikels „Magisches Viereck – Johannes Lepsius, Armenien und Deutschland“ (www.armenocide.de) und erschienen in der „Armenisch-Deutschen Korrespondenz“ Jg 2001/Heft 3]