Das Buch soll eine Ohrfeige sein für die deutschen Bundestagsabgeordneten, die eine Armenien-Resolution verabschiedet hatten und die Türkei aufforderten, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, eine Ohrfeige für die damaligen deutschen Diplomaten, die über den Hergang des Völkermords und teilweise auch seine Hintergründe berichteten und eine Ohrfeige für heutige deutsche Publizisten, die das fast vergessenen Thema nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Öffentlichkeit brachten. Einen wahren Teufel aber sieht Özgönül in dem Theologen und Missionar Johannes Lepsius, der gleich mehrere Todsünden begangen hatte: Er hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts auf die Seiten der von den Osmanen geschundenen Armenier gestellt und ihnen tatkräftig geholfen. Dann hatte er praktisch als einziger deutscher Publizist noch während des Ersten Weltkriegs die deutsche Öffentlichkeit davon informiert, daß die jungtürkischen Verbündeten den Krieg dazu nutzten, die Armenier im Osmanischen Reich endgültig auszurotten. Und sogleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte Lepsius die Akten des deutschen Auswärtigen Amts veröffentlicht, die den Völkermord so detailliert schilderten, daß eine Leugnung nicht mehr möglich war. Bis in die Resolution des Bundestags 2005 habe der lange Arm von Lepsius gereicht, denn in seinem Namen wurde die Türkei aufgefordert, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, auch wenn der nicht expressis verbis in dem einstimmig verabschiedeten Text der deutschen Parlamentarier so genannt wurde.
Johannes Lepsius, so die These Özgönüls, habe seine Hände überall im Spiel gehabt. Erst habe er die deutsche Politik dahin gelenkt, daß die Armenier ins Schußfeld der regierenden Jungtürken gerieten, dann habe er seine Leute als „armenische Spione“ und „Berater“ in die deutsche Botschaft in Istanbul eingeschleust und schließlich über ein von ihm aufgebautes Missionars-Netzwerk dafür gesorgt, daß nur Berichte in seinem Sinn verfaßt würden, die er dann von Skandinavien bis nach Südamerika verbreitete. Nicht nur habe Lepsius die von ihm herausgegebenen Akten manipuliert, auch die inzwischen herausgegebenen bereinigten Texte der deutschen Original-Akten Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Springe, 2005. seien nichts wert, denn Lepsius habe bei den deutschen Diplomaten schon in die Entstehung der Berichte eingegriffen und somit bereits die Originale verfälscht. Diesem Lügengewebe des Johannes Lepsius säßen die Historiker in aller Welt bis heute auf. Mit anderen Worten: Nicht die Türken haben einen Völkermord begangen, sondern Lepsius habe einen vorgetäuscht.
Nun kann man durchaus auch einen Missionar und Armenierfreund wie Johannes Lepsius kritisieren, denn die deutsche Lepsius-Forschung hat leider die politischen Hintergründe ihres Protagonisten niemals beleuchtet. Der von mir erstmals veröffentlichte Hinweis auf eine geheimdienstlichen Tätigkeit von Lepsius zum Kriegsende hin brachte mir von Seiten der Lepsius-Forscher den Vorwurf „unethischen“ Handelns ein. In der Folgezeit habe ich intern meine Bedenken angemeldet, daß ein Mann, der die Weimarer Demokratie verachtete, vehement für eine Rückkehr der Hohenzollern eintrat und von einem Großdeutschland schwärmte nicht eines der überragenden Vorbilder für die heutigen Deutschen sein kann. Doch gerade weil ich einer der wenigen Kritiker des Politikers Johannes Lepsius in Deutschland bin, kann und muß ich zur Lepsius-Darstellung des Autors Özgönül sagen, daß sie geradezu grotesk ist.
Wer Geschichte in Form einer Verschwörungstheorie lesen will, dem sei dieses Buch empfohlen. Cem Özgönül erweist sich als ein Meister der Verdrehungen und Verfälschungen - und wissenschaftlichen Bräuchen durchaus abgeneigt. Sämtliche von ihm angeblich erstmals aufgedeckten Manipulationen der deutschen Dokumente zugunsten der Armenier habe ich bereits vor sechs Jahren Dokument für Dokument in unserem Internet-Portal www.armenocide.net publiziert. Özgönül hat diesen Manipulationen eine einzige Zeile hinzugefügt, und die hatte nicht mit Armeniern zu tun. Und er hat sich nicht nur unsere Vorarbeit zu Nutzen gemacht, sondern schlicht unsere Texte heruntergeladen, um sie als eigene auszugeben, wie ich im Anhang zu dieser Besprechung detailliert nachweisen kann. Selbst Originaltexte hat er nicht selbst erfaßt, sondern abgeschrieben. So viel schon einmal zur „wissenschaftlichen“ Arbeitsweise des Autors, auf die er sich immer wieder beruft.
Die Massenmorde des osmanischen Sultans Abdul Hamid in den Jahren 1894 bis 1896 an den Armeniern seines Machtbereichs hatte Johannes Lepsius mit seinem Werk „Armenien und Europa“ in Deutschland bekannt gemacht und dazu beigetragen, daß die Armenier im Westen vornehmlich als christliche Brüder angesehen wurden und nicht nur als eine der vielen Völkerschaften des Orients. Deutsche Missionsvereine bauten, wenn auch später als die französischen, englischen und vor allem amerikanischen in der Türkei Hilfswerke für armenische Witwen und Waisen auf, darunter Johannes Lepsius mit der von ihm 1900 gegründeten Deutschen Orient-Mission.
Auch politisch setzte sich Lepsius in Deutschland für die Armenier ein, doch bildeten er und seine Freunde - so Paul Rohrbach - stets eine Minderheit, denn die herrschende politische Meinung stand auf Seiten der Türken oder setzte auf sie. Die deutschen Imperialisten von den Liberalen um Friedrich Naumann bis zu den Alldeutschen befürworteten eine deutsche Expansion in den Orient. Das tat auch Lepsius, der die christlichen Armenier einzubringen versuchte, allerdings ohne Erfolg. Selbst Naumann hatte eine antiarmenische Grundhaltung, während die Rechten ihren Antisemitismus ungeschminkt auf die Armenier übertrugen, den der vielgelesene Karl May so formulierte: „Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtnase eines Armeniers im Spiele.“ Gelehrige Schüler dieses aggressiven Rassismus waren später die meisten der von Özgönül gerühmten deutschen Spitzen-Offiziere in der Türkei.
Die Berichte der deutschen Konsuln - die Hauptquelle der Akten des Auswärtigen Amts zum Völkermord an den Armeniern - „basieren größtenteils auf Schilderungen von Armeniern oder aber von Mitarbeitern der Lepsiusschen Orientmission“, schreibt Autor Özgönül. Zum einen: Wer anders als Armenier könnten die besten Zeugen der Vernichtungsaktionen sein? Nie würde der Autor auf die Idee kommen, Juden als Zeugen des Holocaust auszuschließen, doch bei Armenier ist für ihn stets alles anders.
Was der Autor aber als zweite - und wichtigste - Quelle der deutschen Konsuln angibt, zeigt seine profunde Unkenntnis. Er erfindet ein Netzwerk, an dessen Spitze Lepsius stand, den er überall „als Strippenzieher im Hintergrund“ sieht. Dem Autor ist schlicht nicht bekannt, daß Lepsius außer in Urfa - wo er eine Teppichfabrik für armenische Witwen aufgebaut hatte, ferner ein Krankenhaus mit Apotheke - nirgendwo im Osmanischen Reich eine eigene Mission unterhielt. Alle übrigen in der Dokumentation vorhandenen Zeugnisse deutscher Missionare stammen von Mitarbeitern anderer Organisation, hauptsächlich dem Frankfurter „Hülfsbund für christliches Liebeswerk“, von dem sich Lepsius schon früh getrennt hat.
Und die „Strippenzieherei“ auch nur der Orient-Mission ist ebenfalls an den Haaren herbeigezogen. Der Autor hätte nur einmal einen Blick in das Lepsius-Archiv werfen müssen - eigentlich eine Voraussetzung einer „wissenschaftlichen“ Auseinandersetzung mit der Hauptperson seiner Arbeit -, um zu erfahren, daß Lepsius während des Ersten Weltkriegs nicht einmal direkten Kontakt zu seiner vom Schweizer Jakob Künzler geleiteten Mission in Urfa hatte. Der Autor hätte aber auch in den Dokumenten nachlesen können, daß Lepsius während des Krieges nur nach Konstantinopel, nicht aber nach Urfa reisen durfte. Nicht einmal einen persönlichen Brief hat Lepsius in dieser Zeit an Künzler geschrieben, geschweige denn ihm vertrauliche Anweisungen geben können. Lepsius erfuhr über die Arbeit seines Angestellten nur über Schweizer Freunde. Künzler war ein wichtiger Informant, aber fast nur über die Lage in Urfa. Insgesamt sechs Sach-Schilderungen und einige Rechenschaftsberichte über Zahlungseingänge und Kosten sowie einen Bericht über eine Reise nach Rakka schickte der Schweizer Diakon an den deutschen Konsul Walter Rößler in Aleppo, der sie an die Botschaft weiterleitete oder direkt ans Auswärtige Amt - insgesamt nicht einmal ein Dutzend Dokumente der insgesamt fast tausend veröffentlichten deutschen Dokumente.
Bricht damit schon eine Hauptsäule der angeblichen Enthüllungen des Autors zusammen, so steht es mit anderen nicht besser. Lepsius habe maßgeblichen Einfluß auf die deutsche Orient-Politik genommen, behauptet der Autor, denn die Deutschen hätten sich der Armenier für ihre imperialen Absichten versichern wollen. Genau das hatte der deutsche Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim versucht, war damit aber bei seinem Vorgesetzten und Außenminister abgeblitzt. Nach dem Desinteresse Berlins an den Armeniern spielte Lepsius für die deutsche Politik nur noch solange eine Rolle, als er beruhigend auf die Armenier einwirken konnte, um militärische und andere Pläne nicht zu gefährden.
Einer der wichtigsten Lepsius-Vertrauten und Mitbegründer der „Deutsch-Armenischen Gesellschaft“ war der Armenier Liparit Nasariantz. „Bereits im Januar 1915 wurde unter dem Deckmantel der Deutsch-Armenischen Gesellschaf und mit Lepsius als Referenz der russisch-armenische Spion Liparit Nasariantz nach Istanbul geschickt“, schreibt der Autor, „vorgeblich“ um für die Loyalität der osmanischen Armenier zu werben, in Wahrheit aber um „einen armenischen ‚Vertrauensmann’ in ‚beratender“ Funktion in der dortigen (deutschen) Botschaft unterzubringen.“
Liparit war Ende 1914 über Sofia, die Hauptstadt der verbündeten Bulgaren, nach Konstantinopel gereist, um dort - so Lepsius in einem Schreiben an das Auswärtige Amt - in armenischen Kreisen die deutsche Haltung zu vertreten und für Sympathie zu werben. In Sofia hatte er sich mit Armeniern getroffen und diverse Zeitungen ausgewertet. Darüber verfaßte er Berichte, die wegen einiger militärischer Details auch an das deutsche Hauptquartier weitergereicht wurden.
Wie skeptisch Liparit Nasariantz von den Deutschen gesehen wurde, mag ein Telegramm des deutschen Konsulatssekretärs in Sofia, Nauert, bezeugen: „Gestern sah ich Liparit wiederum und zwar im Restaurant des Grand Hotel in Begleitung eines Armeniers, der als russischer Spion bekannt ist, und einer Dame, die eine aus der Schweiz kürzlich hierhergekommene russische Spionin sein soll“, kabelte er an die Botschaft in Konstantinopel. „Liparit selbst wurde mir von zwei verschiedenen Seiten ebenfalls als russischer Spion bezeichnet.“ Aus keinem Dokument geht hervor, daß der Lepsius-Vertraute Liparit irgendeinen Einfluß auf die deutsche Politik hatte, nicht einmal zum Kriegsende, als er in Berlin offiziell die Kaukasus-Armenier vertrat. Da war der Völkermord an den Armeniern sowieso schon Geschichte.
Der von Lepsius Anfang des Krieges in die deutsche Botschaft eingeschleuste „armenische Spion“ soll der armenische Abgeordnete von Konstantinopel, Aknuni, gewesen sein. Einem Brief von Lepsius an das Auswärtige Amt vom Juni 1915 ist ein Bericht von Liparit beigefügt, in dem es unter anderem heißt: „Um die Botschaft mit den loyalen politischen Führern der Armenier in Fühlung zu erhalten, brachte Dr. Liparit Herrn Aknuni mit Dr. Weber und Dr. Mordtmann in Verbindung. In einer mehrstündigen Sitzung mit diesen Herren wurde beraten, welche Schritte zur Hebung der Mißstände in Armenien geschehen könnten.“
Lepsius gab in diesem Brief die Meinung Liparits wieder und wollte gegenüber dem Auswärtigen Amt die Wichtigkeit seines Mannes hervorheben. Es war vielleicht der einzige Besuch von Aknuni in der Botschaft, dort hat er mit jenen Beamten konferiert, die fließend Armenisch sprachen - dem Ersten Dragoman Theodor Weber, einem Botschaftsrat (4. Klasse) und dem für armenische Angelegenheiten abgestellten Generalkonsul Johann Mordtmann. Der protokollierte in den Botschaftsakten stets alle wichtigen Interna, hat diesen Besuch aber nicht einmal erwähnt, so wenig wichtig war er für ihn. Autor Özgönül macht aus diesem Höflichkeitsbesuch einen gelungenen Coup, einen ranghohen Armenier als Maulwurf ins deutsche diplomatische Corps einzuschleusen. Als Aknuni dann am 24. April 1915 mit den anderen armenischen Intellektuellen von den Türken festgenommen und umgebracht wurde, hat die deutsche Botschaft für ihn genauso wenig einen Finger gekrümmt wie für die übrigen verhafteten Armenier.
Als Lepsius im Juni 1915 nach Konstantinopel fahren wollte, riet Botschafter Wangenheim dringend davon ab. Doch Lepsius war schon abgereist und der stellvertretende deutsche Außenminister Arthur Zimmermann beruhigte Wangenheim, Lepsius sei ein „leicht lenkbarer Herr“ und würde sich voll den Direktiven der Botschaft unterordnen. Über die damalige osmanische Hauptstadt kam Lepsius dann auch nicht hinaus und mußte zurückreisen, immerhin konnte er mit Kriegsminister Enver ein Gespräch führen. Das aber hatte nicht die Botschaft eingefädelt, sondern der Enver-Freund und Marineattaché Hans Humann - ein besonders rüder Armenier-Hasser und späterer Propagandist der Nazis, im Buch von Özgönül wegen seiner protürkischen Einstellung stets als Kronzeuge angerufen und besonders hofiert.
Auf seiner Reise nach Konstantinopel und zurück hatte Lepsius das Material zu seiner publizistischen Glanztat gesammelt, dem „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“, den er 1916 an 20000 Pfarrstellen in Deutschland verschickte und der trotz Zensur auch Reichstagsabgeordnete erreichte. Die von Lepsius verwendeten Berichte aus dem Innern der Türkei stammten aber nicht von deutschen Diplomaten, sondern fast ausschließlich von den Amerikanern, denn deren Konstantinopler Botschafter Henry Morgenthau sen. hatte Lepsius Zugang zu den Berichten seiner eigenen Konsuln verschafft, während die deutsche Botschaft sich damals weitgehend weigerte, Lepsius Einblick in ihre Dokumente zu geben.
Den Rest des Krieges verbrachte Lepsius im neutralen Holland, wo er für Kreise um den Rechtsaußen der deutschen Militärs, Erich Ludendorff, Material aus englischen Zeitungen sammelte und mit Hilfe niederländischer Politiker Kontakte zu britischen Parlamentariern knüpften sollte - für Autor Özgönül erneut Quelle wildester Vermutungen, die er aber als Tatsachen hinstellt. Lepsius habe „persönliche Treffen sowohl mit maßgeblichen Persönlichkeiten in London und Paris“ gehabt, schreibt er und nennt als die namhaftesten Partner Lord Bryce in London, Boghos Nubar Pascha in Paris sowie John Mott in den USA. Ebenfalls im Lepsius-Archiv hätte er erfahren können, daß es während des Ersten Weltkriegs zwischen Lepsius und seinen angelsächsischen Freunden Lord Bryce oder John Mott nicht einmal einen Briefwechsel gab. Lepsius konnte als Deutscher weder nach London noch nach Paris fahren. Zwei holländische Politiker hatten sich während des Krieges nach England eingeschifft, um dort Erkundigungen einzuholen, ob ein Separatfrieden möglich sei und sie waren ohne Ergebnis zurückgekehrt. Über diese Reise hat Lepsius seinen Oberen in Berlin berichtet.
Lediglich in die Schweiz konnte Lepsius reisen, und auch dort macht Özgönül sofort einen Verdächtigen aus, den er zum geheimnisvollen Spionagenetz des Johannes Lepsius zählt - den Arzt und Armenierfreund Andreas Vischer. Der hatte in der Vorkriegszeit als Arzt in Urfa gearbeitet, befand sich aber bei Kriegsausbruch in der Schweiz und durfte nicht nach Urfa zurückkehren. Gegen Ende des Völkermords hatten die Deutschen versucht, Vischer als Schweizer Koordinator für Hilfeleistungen an die Armenier zu gewinnen und ihm ein Visum zu verschaffen, was mißlang. Als Lepsius-Verbindung nach Urfa fiel also auch Vischer aus.
Als letztes Beispiel für Fälschungen von Original-Dokumenten durch Lepsius führt Özgönül den deutschen Lehrer Martin Niepage in Aleppo an, der dem Reichskanzler einen Bericht über an Armeniern verübte Greuel zukommen ließ. Dieser hätte auf Anstiftung von Lepsius seinen Bericht „durch massive Übertreibungen und Weglassungen von negativen Schilderungen über die Armenier“ verfälscht, behauptet Özgönül, was durch „Verhöre“ ans Tageslicht gekommen sei. Richtig ist: Seinen Bericht hatte Niepage am 15. Oktober 1915 geschrieben und auf Veranlassung des Schweizer Leiters der deutschen Schule an die Botschaft wie auch an den Reichskanzler geschickt, woraufhin Außenminister Jagow am 12. November 1915 seinen Botschafter in Konstantinopel bat, diesen Bericht „zum Anlass nehmen zu wollen, um bei der Pforte erneut gegen die grausame Behandlung der Armenier Verwahrung einzulegen und sie auf die verhängnisvollen Folgen aufmerksam zu machen, die dem türkischen Reiche aus der Fortsetzung einer derartigen Ausrottungspolitik erwachsen müssen.“ Bis zum Juni 1916 war Niepage in Aleppo tätig, kehrte sodann nach Deutschland zurück. Mitte Juli traf er sich mit dem Sekretär von Lepsius, Richard Schäfer, weil der Chef inzwischen nach Holland übergesiedelt war. Niepage konnte deshalb weder beim Verfassen noch vor dem Abschicken des Berichts an Botschaft und Reichskanzler mit Lepsius in Kontakt getreten sein. Erst am 24. Januar 1917 wurde er zu seinem Bericht vernommen und bedauerte, daß seine 1916 verfaßte Druckschrift an die Reichstagsabgeordneten ins Ausland gelangt sei. Lepsius konnte allenfalls für diese Druckschrift Änderungen durchsetzen, nicht aber die Urschrift Niepages manipulieren, die sich in den deutschen Original-Akten befindet und die Anlage eines Berichts von Rößler vom 3. Januar 1916 war. Die geringfügigen Abweichungen der Druckschrift Niepages von seiner Urschrift - noch ungeklärt ist, ob Lepsius oder Niepage selbst sie vorgenommen haben - sind in unserem Dokument 1916-09-10-DE-001 kenntlich gemacht worden. Von „massiven Übertreibungen und Weglassungen von negativen Schilderungen über die Armenier“ kann also nicht einmal in der Druckschrift die Rede sein, geschweige denn im Original.
Fazit: Auf keine einzige der von Autor Özgönül genannten Quellen hatte Lepsius irgendeinen Einfluß nehmen können.
Und auch die übrigen Versuche des Autors, die deutschen diplomatischen Quellen generell als unseriös abzustempeln, schlagen fehl. So behauptet Özgönül, die deutschen Konsuln seien nur an der Peripherie jenes Gebiets präsent gewesen, in dem die „tragischen Ereignisse“ stattgefunden hätten. Dazu muß man wissen, daß fast alle Konsuln im Osten Anatoliens aus Verkehrsgründen zumeist an den Küsten residierten. Die Deutschen aber hatten Konsuln in den beiden bedeutsamsten Brennpunkten im Innern. Zum einen in Erzerum, wo sich die Spitze der türkischen Armenier-Vernichter in der Anfangszeit konzentrierte. Von dort berichtete ausführlich Vizekonsul Max Erwin von Scheubner-Richter. Das andere Zentrum war Aleppo, wo sich die türkische Verwaltung der Armenierdeportationen in die Wüsten Mesopotamiens und in den Süden angesiedelt hatte. Dort berichtete nicht minder detailliert der deutsche Konsul Walter Rößler, oft vertreten durch seinen Kollegen Hoffmann aus Alexandrette, dem heutigen Iskenderun. Die Armenier des Westens wurden in die Wüsten Mesopotamiens über Adana deportiert, wo Konsul Büge viele von ihnen vernahm. Die beiden einzigen weißen deutschen Diplomaten-Flecken waren Kharput, wo nur die Amerikaner ein Konsul eingerichtet hatten sowie Van, wo Amerikaner und Deutsche (bzw. Schweizer) nur mit Missionsstationen vertreten waren.
Die deutschen Diplomaten waren also an den Brennpunkten der Armeniermassaker. Einer der wichtigsten war Konsul Walter Rößler im Drehkreuz Aleppo. In der Logik der Genozidleugner ist es folglich wichtig, diesen Konsul unglaubwürdig zu machen, was in den Augen türkischer Nationalisten am leichtesten damit zu bewerkstelligen ist, daß, wie Özgönül schreibt, „ein Großteil seiner Informationen auf armenische Kreise zurückzuführen ist“. Mehr noch: Rößler mache sich schon deshalb verdächtigt, schreibt Özgönül, weil er „nicht eine einzige kritische Zeile bezüglich der Armenier übermittelt hat“. Wer die Armenier nicht haßt und verdammt, so die Logik des Cem Özgönül (und der türkischen Nationalisten allgemein), kann kein ehrbarer Mensch sein.
Rößler kannte seine Vorgesetzten sehr genau und wußte, daß sie auf die Armenier nicht gut zu sprechen waren, deshalb zeichnete sich gerade Rößler dadurch aus, daß er die armenischen Zeugen sehr genau auf ihre Zuverlässigkeit hin untersucht hat. Die meisten Zeugen von Rößler aber waren gar nicht Armenier. Hier die Informanten und Berichtschreiber in allen Rößler-Berichten und -Telegrammen aus den entscheidenden Jahren 1915 bis 1916:
1915-04-12-DE-001: Informant: die deutsche Helene Stockmann
1915-04-20-DE-013: Informant: der amerikanische Präsidenten der US- Mission in Aintab, John E. Merril.
1915-06-12-DE-013: Informant für Zahl der im Gebiet Vertriebenen: der Katholikos von Sis
1915-06-29-DE-002: Informant: der Schweizer Jakob Künzler
1915-07-27-DE-001: Informanten: 1. für Anzahl: Katholikos; 2. ein Schweizer Ehepaar; 3. ein hiesiger Armenier; 4. türkische Gendarmen. Bericht des Deutschen W. Spieker.
1915-07-31-DE-002: Informant: Armenischer Priester, der mit Genehmigung Djemals nach Der-es-Zor gereist war.
1915-08-07-DE-001: Informant: Leitende Armenier (Aleppos) zur Zahl der Verbannten. Zum Teil hatten sie Namen für Namen notiert.
1915-08-07-DE-005: Informant: türkischer Vali.
1915-08-11-DE-001: Bericht des Schweizer Jakob Künzler.
1915-08-13-DE-001: Informant:Vali Beschir Sami Bey. Berichte eines Österreichers und des Deutschen Franz Eckart.
1915-09-03-DE-002: Informanten: 1. Stationsvorsteher der Bagdadbahn; 2. Armenier (Rößler dazu: „Die Nachricht kommt zwar aus armenischer Quelle, aber von zuverlässigen Leuten und kann als sicher angesehen werden.“), 3. ein Holländer, 4. ein Luxemburger; 5. polnischer Ingenieur der Bagdadbahn; Berichte von 1. Jakob Künzler; 2. europäischer Bekannter; 3. Rößler selbst; 4. Ein Armenier (dazu Rößler: Ein älterer ruhiger vorsichtig abwägender Armenier, protestantischer Pfarrer von ausserhalb Aleppo, der hier an dem Hilfswerk für die Vertriebenen sich wesentlich beteiligt, hat mir als Ergebnis seiner über mehrere Wochen sich erstreckenden Vernehmungen über die Verbannten ... in anliegender Aufzeichnung übergeben ... Der Pfarrer ist bestrebt gewesen, aus den einzelnen Gruppen sich die gebildetsten und urteilfähigsten herauszusuchen. Ob seine Darstellung zutrifft, wird sich nach Wiederkehr ruhigerer Zeiten endgültig ergeben. Vorläufig liegt meines Erachtens leider bei den zahlreichen aus den verschiedensten Quellen eintreffenden gut bezeugten Nachrichten, die immer wieder das gleiche Bild ergeben, keine Veranlassung vor, die Darstellung nicht für richtig anzusehen.); 5. W. Spieker.
1915-09-27-DE-014: Informanten: 1. zwei deutsche Borromäusschwestern; ein Deutscher und ein Oesterreicher, zwei deutsche Offiziersburschen; ein türkischer Oberst (bei diesen 7 Zeugen ist fraglich, ob sie Informationen geliefert haben); 2. ein Schweizer, 3. Rößler selbst als Zeuge; 4 der stellvertretende syrianische (syrisch Katholische) Bischof; 5. ein deutscher Kaufmann.
1915-11-16-DE-001: Informant: der deutsche Offizier Graf Wolffskeel
1915-11-16-DE-002: Informant: der deutsche Oberstabsarzt Dr. Schacht. Bericht eines Deutschen.
1915-11-16-DE-003: Informant: der Schweizer Künzler, der Deutsche Wolffskeel.
1915-11-30-DE-001: Informanten: Die Armenierin Gaidzak; der deutsche Offizier Freiherrn von Kress. Berichte: zwei der Deutschen Didszun, einer des Armenier Sarkis Manukian (dazu Rößler: Manukian hat von 1905 – 1908 in Berlin und von 1908 – 1910 in Leipzig Philosophie studiert und an letzterer Universität den Doktor der Philosophie gemacht. Er war mehrere Jahre Lehrer an einer armenischen Schule in Erzerum, zuletzt auf Anregung des deutschen Generals Otto Posseldt, dann des deutschen Konsuls von Scheubner Lehrer für deutsche Sprachkurse. ... Mehrfach habe ich im Verlauf der letzten Monate von der grausamen Art solcher Umbringungen gehört, aber davon geschwiegen, weil ich keinen Augenzeugen hatte. Manukian der wohl als einwandfreier Zeuge gelten kann, hat solche Szene erlebt.)
1916-01-03-DE-001: Berichte: 1. deutscher Konsul Hoffmann, 2. der deutsche Konsulatsmitarbeiter Lechzig; 3. der deutsche Lehrer Niepage bestätigt durch zwei weitere deutsche und einen Schweizer Lehrer.
1916-01-03-DE-002: Informant: deutscher Ingenieur. Berichte: der Schweizer Jakob Künzler; der deutsche Ingenieur Bastendorff.
1916-01-26-DE-001: Informant: türkischer Polizeikommissar.
1916-01-31-DE-001: Informant: der Schweizer Jakob Künzler.
1916-02-09-DE-001: Informant: ein Armenier; Bericht: der deutsche Konsul Litten.
1916-02-29-DE-001: Informant: der türkische Vali.
1916-04-20-DE-001: Informanten: armenische Nachrichten.
1916-04-27-DE-001: Informanten: 1. türkischer Offizier; 2. ein Deutscher; 3. ein türkischer Offizier (möglicherweise der gleiche); 3. Vali.
1916-05-12-DE-011: Informanten: 1. deutsche Schwester; 2. der Vali von Aleppo ;
1916-06-17-DE-001: Informant: der Vali ; Bericht: Schweizer Schwester Rohner
1916-06-29-DE-011 : Informant: einheimischer Vertrauensmann; Berichte: die Schweizer Schwester Rohner.
1916-07-10-DE-002: Bericht: Ein Arbeiter der Bagdadbahn.
1916-07-29-DE-001: Informanten: 1. ein deutscher Beamter des höheren Reichsdienstes; 2. der türkische Militärapotheker in Meskene; 3. ein türkischer Offizierstellvertreter; 4. deutscher Offizier; 5. deutscher Offizier; Berichte: 1. armenische Deportierte Araxia Djibedjian; 2. ebenfalls deportierter armenische Pfarrer Vartan Geradian; 3. armenischer Deportierter Der Boghossian; 4. die deutsche Schwester Paula Schäfer; 5. der Schweizer Diakon Jakob Künzler.
1916-08-08-DE-011 : Informant: der amerikanischer Konsul.
1916-09-20-DE-001: Informanten: der deutsche Kapitänleutnant von Mücke. Bericht: der Deutsche August Bernau, der in Diensten einer amerikanischen Ölfirma stand.
1916-11-05-DE_001: Informanten: 1.der gebürtige Deutsche Bernau ; 2. ein Deutscher. Berichte der ihrer Hinrichtung entkommenen Armenier 1. Hosep Sarkissian aus Aintab, 2. Manug Kyrmenikian aus Alabasch bei Marasch und 3. Nasaret Muradian aus Zeitun, aufgezeichnet von der Schweizer Schwester Beatrice Rohner.
Fazit: Unter den Informanten waren: 19 Deutsche, zwölf Türken, neun Armenier (zweimal der Katholikos von Sis), zwei Amerikaner, ein Holländer, ein Luxemburger, ein Pole, ein Syrianer. Von insgesamt 46 Informanten waren 31 Nicht-Armenier und neun Armenier. Anteil der Armenier: weniger als 20 Prozent. Unter den 21 Berichterstattern waren 13 Deutsche, neun Armenier, sechs Schweizer, ein Österreicher, ein Europäer. Anteil der Armenier: 42 Prozent.
Rößler hatte auch deutsche Offiziere befragt, die auf dem Weg zur Front durch Aleppo kamen, sie aber in der Regel nicht namentlich genannt, damit sie nicht von den deutschen Spitzen-Offizieren und hochgradigen Armenier-Feinden Bronsart von Schellendorff und Humann (den Intim-Freunden des damaligen Kriegsministers Enver und bevorzugten Quellen des Autors Özgönül) bei den türkischen Machthabern angeschwärzt werden konnten.
Die gleiche Methode wendet Nebelwerfer Özgönül auf die Informanten der deutschen Diplomaten an. Die Zeugnisse zweier der wichtigsten von ihnen, der Deutschen Eva Elvers wie der Norwegerin Thora von Wedel-Jarlsberg, nennt er „gleichermaßen wortgewaltige, wie auch blutrünstigen Schwestern-Berichte ... gespickt mit den zwar schauderhaftesten, aber durchweg auf Hören-Sagen basierenden Geschichten“. Beide Missionarinnen sprachen fließend Armenisch und waren monatelang direkt im Völkermord-Geschehen. Der Armenien-Spezialist in der deutschen Botschaft, Johann Mordtmann, schrieb über die beiden Augenzeuginnen: „Beide kennen Land und Leute in Türkisch-Armenien und speziell Kurdistan durch ihre langjährige Tätigkeit bei den Missionen des Hilfsbundes etc. aus eigener Anschauung.“ Und ein leibhaftiger Offizier, der ja nach Özgönül wegen der „höheren Offiziersehre“ ein glaubhafter Zeuge sein müßte, bestätigte ihre Berichte. „Die Schilderung der Einzelheiten“, schrieb Mordtmann, „stimmt vollständig mit dem überein, was uns der [österreichische] Major Dr. Pietschmann erzählt hat.“
Der Bericht eines deutschen Offiziers ist es denn auch, der dem Autor Özgönül das größte Kopfzerbrechen bereitet. Mit ziemlich eindeutigen Aussagen hatte der deutsche Infanterie-Major Stange die Jungtürken schwer beschuldigt. Özgönül hat spürbare Beißhemmungen gegenüber diesem Zeugen, einmal weil er Offizier war, zum anderen weil der US-Forscher Vahakn N. Dadrian herausgefunden hatte, dass Stange Mitglied der Teskilat-i-Mahsusa-Organisation war, der jungtürkischen „Sonderorganisation“, einer Art Totenkopf -Truppe, die extra für die Durchführung der Massenmorde zusammengestellt war.
Um diesen auch von Lepsius veröffentlichten Stange-Bericht abzuwerten, mäkelt der Autor andauernd am „Dienstweg“ des Schreibens herum. Sein Schreiben hätte niemals an den Leiter der deutschen Militärmission in der Türkei, Otto Liman von Sanders (dem internen Hauptfeind der türkophilen deutschen Offiziere) gehen dürfen, sondern direkt an den deutschen Stabschef Bronsart von Schellendorff, der ebenfalls Mitglied der Teskila-i-Mahsusa war. Durch den falschen Dienstweg sei das Unglück passiert, lamentiert Özgönül, denn „dadurch kommt ein als ’Geheim’ eingestufter Bericht der Militärbehörden in die Akten des Auswärtigen Amts“.
Kopfschüttelnd nimmt Autor Özgönül zur Kenntnis, daß es sich beim Stange-Bericht „um eine einzige Anklageschrift gegen sämtliche osmanischen Behörden vor Ort“ handelte, „wie auch der Zentralregierung in Istanbul, und dies in einer kategorischen Diktion, die kaum Zweifel zuläßt.“ „Die Aktionen gegen die Armenier würden ‚berechtigten’ Anlaß zu der Vermutung geben“, zitiert Özgönül Stange, „daß militärische Gründe erst in zweiter Linie für die Vertreibung der Armenier in Betracht kamen, und daß es hauptsächlich darauf ankam, diese günstige Gelegenheit [den Weltkrieg], wo von außen her Einspruch nicht zu erwarten war, zu benutzen, einen lang gehegten Plan, die gründliche Schwächung, wenn nicht Vernichtung der armenischen Bevölkerung zur Ausführung zu bringen.“
Autor Özgönül kann in künftigen Buch-Ausgaben den unheimlichen Offizier ohne Gewissensbisse wieder weglasen, denn Stange wählte nicht nur den richtigen Dienstweg, er war auch gar nicht Mitglied der Teskila-i-Mahsusa. Schon vor mehr als 20 Jahren hatte der Schweizer Historiker Christoph Dinkel herausgefunden, daß es zwei deutsche Offiziere namens Stange gab. Der die Türken so schwer belastende Offizier Stange war Bataillonskommandeur der Infanterie, der andere Hauptmann der Artillerie - und nur der war Mitglied der „Sonderorganisation“ und damit Blutsbruder von Bronsart & Co.
In den Mittelpunkt seines Buches stellt Özgönül die 1919 von Lepsius herausgegebene Aktensammlung „Deutschland und Armenien“. Das Auswärtige Amt hatte Lepsius mit dieser Ausgabe beauftragt und ihm dafür Kopien der Originaldokumente zur Verfügung gestellt. Die veröffentlichten Dokumente enthielten dann Veränderungen und Manipulationen, die den Wert dieser Edition aus heutiger Sicht sehr schmälern. Weil die der Ausgabe zugrundeliegenden Kopien nach kurzer Zeit verbrannt wurden - vermutlich um die Urheberschaft der Manipulationen zu verschleiern -, kann heute nicht mit Sicherheit gesagt werden, wer was geändert hat. Doch ein Vergleich der im Lepsius-Archiv noch vorhandenen und im Buch nicht verwendeten Kopien sowie handschriftliche Bemerkungen von Lepsius lassen den Schluß zu, daß die Veränderungen weitgehend vom Auswärtigen Amt vorgenommen wurden und Lepsius nur auf die Auswahl der zu veröffentlichenden Dokumente Einfluß genommen hat. Lepsius wollte weitere Dokumente veröffentlichen, die die Schuld der Türken am Völkermord eindeutig belegten, das AA hingegen es mit den türken nicht noch mehr verderben.
Der Gesprächspartner im AA war der Geheimrat Otto Göppert. Dieser, schrieb Lepsius, „wollte immer noch bei den Türken einen Stein im Brett behalten, die Hauptmissetäter schonen und auch das türkische Ungeziefer aus der Perücke der Botschafter herauskämmen.“ Diesen Satz aus dem Lepsius-Archiv hatte ich in meinem Artikel über die Hintergründe („Magisches Viereck“ in diesem Portal) verwendet, woraus Özgönül dann machte, ich hätte geschrieben, Lepsius habe die Türken als Ungeziefer bezeichnet. Der Autor schaut so haßverzerrt auf Lepsius, daß er sich gar nicht vorstellen kann, daß dieser in seinem Bild mit „Ungeziefer“ tatsächlich echte türkische Läuse und Flöhe gemeint hat und nicht Türken.
Autor Özgönül pickt sich aus den Manipulationen in „Deutschland und Armenien“ nur die Veränderungen heraus, die Armenier oder Armenien betreffen. Auf die wichtigsten Manipulationen, mit denen Deutschlands Mitverantwortung verwischt werden sollte, geht er gar nicht ein (es wäre freilich auch ein indirektes Zugeständnis, daß es einen Völkermord gegeben hat), andere wischt er einfach beiseite, ohne zu recherchieren. So hatte ich geschrieben, daß in den Dokumenten oft die Namen oder Funktionen von Türken weggelassen wurden. Özgönül streitet das glatt ab.
Hier die Liste gestrichener türkischer Beteiligter: [geordnet nach der Nummer der Lepsius-Akten]:
Namen aus der Anfangsphase zum Völkermord: [19] Akiah Bey in Osmanié [25] Schükrü Bey, Vorsitzender des Kriegsgerichts; Hamdi Bey, der die Armenier fälschlicherweise beschuldigte; Muhammad-i-Djemal, Vorsitzender des bürgerlichen Strafgerichts; Lufti Bey, der Apotheker; Kadir Bey sowie der muslimische Abgeordnete Kadir Bey, die ein scharfes Vorgehen gegen die Armneier in Marasch verlangte. Bei der Vorbereitung der Deportationen in Erzerum: [31] Schakir Bey (!), Halil (!), der Polizeidirektor von Erzerum. Bei der Vorbereitung der Deportationen in Erzinngian: [39] Der Deputierte Halid Bey. [92] der Armee-Oberkommandierende. Bei der Vorbereitung der Deportationen in Trapezunt: [97] der Vali von Trapezunt. Namen von generell am Völkermord beteiligten Türken: [129] der Kaimakan von Terdschan. [139] der Vali von Diarbekir. [149] der Vali Tachsin Bey; der Polizeidirektor [von Erzerum]. [165] Komiteeführer Ismail Safa. [188] und [193] General Fakhri Pascha [196] Militärarzt Dr. Assat bej; Vali Sahit bej; Polizeichef Reschad bej. [209] Talaat Bey (zitiert als „Seele der Armenierverfolgungen“) [226] Chalil und Ahmed Bey (vom Komitee zur Vernichtung der Armenier in den Südosten geschickt) [307] Talaat Bey (der den Befehl zur Deportation der Armenier Smyrnas gegeben habe) [309] Haidar Bej (Vali von Mossul, der die Nestorianer „vertreibt und zum Teil vernichtete“)
Der Autor hatte die Streichung eines einzigen Namens - Tachsin Bey - zugegeben und begründet, Lepsius hätte sonst „mehr als berechtigte Zweifel an der Kompetenz des Berichtes aufkommen“ lassen. Wieso eigentlich? Tachsin Bey kommt bei Scheubner-Richter gut weg, bei anderen, wie Stange, hingegen nicht.
Weil der Autor die Arbeitsweise von Diplomaten nicht kennt, verheddert er sich auch bei ihnen. Konsuln arbeiten ähnlich wie Journalisten. Sind sie bei einem Ereignis nicht selbst zugegen, was häufig der Fall ist, suchen sie Zeugen, die sie auf ihre Zuverlässigkeit überprüfen, und rekonstruieren den Vorgang so gut sie können. Genau dies haben damals auch die deutschen Diplomaten vor Ort getan - mit einer Ausnahme.
„wegen allgemeiner verschwoerung und verrat wie verwuestung einiger staedte anatoliens und toetung von deren muselmanischen bevoelkerung“, kabelte am 27. Juni 1915 der deutsche Vizekonsul Kuckhoff aus Samsun an seine Botschaft in Konstantinopel, „verhaengte regierung ausweisung des gesamten armenischen volkes nach mesopotamien mit fuenftaegiger frist zur regelung ihrer orts-angelegenheiten stop da hier und im inneren bei armeniern bedeutende deutsche guthaben ausstehen ersuche ich um schritte zu deren sicherstellung stop falls regierungsmassregel voll ausgefuehrt wird sind repressalien seitens der mit den verschwoerern verbundenen kriegsfeinde durch zerstoerung aller kuestenstaedte zu erwarten.“
In der Lepsius-Edition von 1919 hieß es nur noch: Regierung verhängte Ausweisung des gesamten armenischen Volkes nach Mesopotamien mit fünftägiger Frist zur Regelung ihrer Ortsangelegenheiten.“
Autor Özgönül fand die Auslassungen so bedeutsam, daß er dieses Dokument in seinem Vorwort besonders herausstellte, um es „beispielhaft zu zitieren“. Dabei unterliefen ihm zwei Fehler. Einmal zitierte er nicht das Original, sondern eine Abschrift von Botschafter Wangenheim, obgleich Abschriften immer fehlerbehaftet sein können. In diesem Fall stimmte das Absenderdatum nicht mit dem des Originals überein. Folgenschwerer aber ist der zweite Fehler: Kuckhoff war der einzige Nicht-Profi unter den deutschen Konsuln. Er war beruflich Angestellter der Tabak-Regie, von den Deutschen nur als Wahlkonsul berufen und kommt deshalb auch im Handbuch des Auswärtigen Amts nicht vor. Während sich die Berufskonsuln an ihre Anweisungen hielten, nur zu berichten, was sie selbst erlebt hatten oder nach sorgfältiger Prüfung der Glaubhaftigkeit von Zeugen für korrekt hielten, gab Amateur Kuckhoff Gerüchte wieder, denn er konnte als lokaler Konsul weder eine landweite, allgemeine Verschwörung, noch die Zerstörung von Städten Anatoliens und Tötung der jeweiligen muslimischen Bevölkerung recherchiert haben. Botschafter Wangenheim ließ denn auch in seinem Anschreiben an die Berliner Zentrale die „Verwüstungen einiger Städte Anatoliens“ und „Tötungen von deren muselmanischen Bevölkerung“ schlicht weg.
Das Bestreben des Autors ist eindeutig: Er versucht um jeden Preis, eine landweite Verschwörung der Armenier nachzuweisen, auch wenn er nur Gerüchte anbieten kann. „Die Lepsiussche Behauptung, das deutsche Aktenmaterial biete keinerlei Hinweise auf eine armenische Aufstandsbewegung, war schlicht und ergreifend eine Lüge“, schreibt er.
Zu dieser angeblichen Lüge schrieb der deutsche Vizekonsul von Alexandrette, Hoffmann-Fölkersamb: „Besondere Vorsicht dürfte sich jedenfalls, von Wan und seiner Zone abgesehen, gegenüber der Anklage ‚militärisch gegliederter Verschwörung’ empfehlen. Gewisse örtliche Aufruhrbewegungen können zum Beweise einer solchen nicht verwertet werden. Dass beispielsweise der Aufruhr von Seitun nicht einer solchen Verschwörung auf die Rechnung gesetzt werden kann, ergiebt sich unzweifelhaft aus der Berichterstattung des Kaiserlichen Konsulats Aleppo. Auch die Empörung der Bewohner von Fundadschak im August und der von Urfa im Oktober war wohl, wenn man will, ‚militärisch gegliedert’, aber örtlich beschränkt und nicht als Ausfluss einer weiter angelegten Verschwörung, sondern an Ort und Stelle durch die Drohung der Verschickung gereift. Die Erhebung der Armenier in der Gegend von Suedije [Musa Dagh] (südlich Alexandrette) war selbst nach Schilderung von militärisch-türkischer Seite keine Verschwörung, sondern eine vom Augenblick geborene Erhebung, die nach türkischem Geständnis in erster Linie dem Ungeschick des Kaimakams von Ladakije bei Bekanntgabe des Verschickungsbefehls zu verdanken ist. Auch die Aufnahme der Aufrührer von Suedije durch französische Kriegsschiffe war keine von langer Hand vorbereitete Handlung. Dafür sprechen die Umstände und die Ansichten gut unterrichteter Türken.“
Um diese Erkenntnis auszublenden, versucht es Autor Özgönül mit einem Trick, den auch andere Genozid-Leugner anwenden: Sie führen Reden und Aufsätze an, in denen Armenier zumeist aus dem Kaukasus sich für eine Kollaboration türkischer Armenier mit den Russen ausgesprochen hatten (der Autor bevorzugt dazu den Armenier Garegin Pasdermadjian, besser bekannt unter dem Namen Armen Garo) und ziehen daraus den Schluß, in der Türkei habe es eine „systematische Aufstandsbewegung“ (Özgönül) der türkischen Armenier gegeben. „Bis in unsere Tage hat sich von diversen Kreisen hartnäckig der freilich auch gezielt bediente Mythos festgesetzt“, schreibt er“, dass ausgerechnet das Aktenmaterial der ehemaligen osmanischen Verbündeten keine Hinweise auf eine solche Kollaboration, Illoyalität und letztlich auch Aufstandbewegung der Armenier orten lasse“. Von gelegentlicher Kollaboration ist in den deutschen Akten die Rede, von Illoyalitäten schon weniger, von einer Aufstandsbewegung im ganzen Land nur dann, wenn türkische Quellen angegeben werden. Die Genozidleugner versuchen aber immer wieder, diese drei Dinge zu vermengen und einen kausalen Zusammenhang vorzugaukeln.
„Bis auf die Berichte der Vertreter der missionarischen Einrichtungen und jenen von Konsul Rößler in Aleppo“, schreibt Özgönül, „gab es so gut wie keinen Deutschen in Anatolien, welcher die Existenz einer solchen Kollaboration mit den Russen und eine systematische Aufstandbewegung in Frage stellen.“ Hier die Aussagen anderer deutscher Diplomaten vor Ort über die angeblichen armenischen Verräter:
Vize-Konsul Hoffmann berichtete aus dem heutigen Iskenderun: „Soweit ich den Charakter und die Tätigkeit der hiesigen kleinen Bevölkerung bisher kennen gelernt habe, glaube ich auch nicht, dass diese sich landesverräterisch betätigt.“ Botschafter Wangenheim schrieb: „In einem Punkte dürfte Übereinstimmung herrschen: dass die Armenier seit Einführung der Konstitution den Gedanken an eine Revolution aufgegeben haben, und dass keine Organisation für eine solche besteht.“ Armenienspezialist Mordtmann referierte eine Unterredung mit dem in Erzerum stationierten deutschen General Posseldt, der „glaubt, daß die Armenier sich ruhig verhalten würden, wenn sie nicht von den Türken bedrückt und gereizt wären. Die Aufführung der Armenier sei tadellos gewesen.“ Vize-Konsul Scheubner-Richter berichtete aus Erzerum über die Ausweisungen: „Ein Aufstand seitens der hiesigen Armenier ist nicht zu befuerchten. Die hiesigen ... sind nicht organisiert, haben auch keine Waffen.“ Und: „Maßnahme militärisch nicht zu begründen, da Aufstand hiesiger Armenier nicht anzunehmen ist.“ Die Armenier, so Konsul Bergfeld in Trapezunt, seien „einer Selbsthilfe abgeneigt“. Scheubner-Richter schrieb, „dass ein Aufstand der Armenier Erserums und seiner näheren Umgebung nicht anzunehmen ist, trotz der geringen hier vorhandenen tuerkischen Streitkraefte. Es seien in seinem Amtsbezirk „weder Waffen noch kompromittierende Schriftstücke gefunden worden. Wäre hier ein Aufstand geplant gewesen, so war dafür die günstigste Gelegenheit im Januar, als die Russen 35 km vor Erserum standen und die Garnison Erserums nur aus einigen hundert Mann Gendarmerie bestand, während sich in Erserum in den Arbeiter-Bataillonen allein 3 - 4000 Armenier befanden.“ Der in Erzerum stationierte Oberstleutnant Stange bestätigte das. Die armenische Bevölkerung habe sich „in Erserum vollkommen ruhig verhalten.“ Scheubner-Richter: „Dass diese Ausrottung möglich, dass sich, wie das hier geschehen, Zehntausende von Armeniern ohne Gegenwehr von einer kleinen Anzahl Kurden und Freischärlern abschlachten lassen, ist wohl auch ein Beweis dafür, wie wenig kampffroh und revolutionär dieses Volk gesinnt ist. Die Armenier sind in ihrer Mehrzahl und soweit ich sie kennen gelernt, keine aktiven Revolutionäre.“
So viel zur Aussage Özgönüls, es habe „so gut wie keinen Deutschen in Anatolien“ gegeben, der, „eine systematische Aufstandbewegung in Frage“ gestellt hätte. In Frage steht vor allem die Glaubwürdigkeit des Autors.
Das gilt auch für das übliche Zahlenspiel der türkischen Genozidleugner, wobei man dem Autor das Kompliment machen muß, sich wenigstens auf die Zahl der armenischen Opfer zu konzentrieren, während üblicherweise alle Kriegstoten gegeneinander aufgerechnet werden (auf diese Weise würden auch die sechs Millionen jüdischen Nazi-Opfer bei den 55 Millionen Weltkriegs-II-Toten relativiert). Die Zahl der armenischen Opfer ist sicherlich für die Geschichtsschreibung wichtig, nicht aber für die Frage, ob der Genozid ein Mythos ist oder nicht. Denn ob nun von der mit Sicherheit übertriebenen Zahl von zwei Millionen armenischer Opfer oder von der mit Sicherheit untertriebenen vom jungtürkischen Kriegsminister Enver genannte Zahl von 300000 ausgegangen wird, ist für die Genozid-Frage unerheblich. In Srebrenica ging es um weniger als 10000 Opfer, und niemand bestreitet, daß dort ein Völkermord stattfand. Das sieht übrigens auch der Autor so, nur jongliert er dann doch seitenlang mit Zahlen herum. Wie er allerdings anhand der deutschen Dokumente zu nur „einigen Zehntausend Opfer“ kommt, ist rätselhaft.
Wenn es dann aber um Lepsius geht, empfiehlt es sich stets, Özgönül genau auf die Finger zu sehen. So schreibt der Autor, Lepsius habe in einem Brief vom 17. April 1916 „nur“ von 750 Tausend Verschickten gesprochen und suggeriert damit, Lepsius habe damit die Gesamtzahl der armenischen Opfer gemeint. In Wahrheit hat Özgönül auch diese Aussage manipuliert, denn Lepsius hat in diesem Brief von der „Deportation von ¾ Millionen Armeniern in die mesopotamische Wüste“ gesprochen - zu den 750000 in die Wüste geschickten Deportierten kommt natürlich die Zahl der zu jener Zeit bereits umgekommenen Armenier, darunter fast aller Männer. Nicht zu sprechen von den vielen geraubten Frauen und Mädchen, die der Autor vermutlich gar nicht zu den Opfern zählt.
Bei allen Zahlenspielen der Völkermordleugner bleibt auch für sie immer die Frage unbeantwortet, warum es nach dem Krieg in der Türkei keine Armenier mehr gab, von Minderheiten in den beiden Städten Smyrna und Konstantinopel abgesehen. All diese verschwundenen Armenier können schlecht vom Innern Anatoliens und sogar der europäischen Türkei in den Kaukasus geflohen sein, denn niemand hat Armenierzüge in diese Richtung je gesehen, nicht einmal türkische Zeugen.
Autor Özgönül glaubte nun in den deutschen Quellen eine Antwort für diese unheimliche Feststellung gefunden zu haben. Er zitiert den deutschen Botschaftsprediger Graf Lüttichau, der in einem Bericht vom August 1918 über die Dersim-Kurden spricht. Dieser Kurdenstamm habe, zitiert er Lüttichau, „grosse Scharen von Armeniern durch sein Gebiet hindurch geschleust und über die russische Grenze“ gebracht. Die Dersim-Kurden lebten nördlich der Stadt Mamuret-ul-Aziz, dem heutigen Elazig, durch die alle Deportiertenzüge aus dem Norden und Nordosten, den armenische Hauptsiedlungsgebieten gingen. Özgönül frohlockt über eine vermeintliche Entdeckung: „Wohlgemerkt, wir reden hier vom Verbleib mehrerer hunderttausender Menschen, über deren Tod im Jahre 1915 Spekulationen angestellt wurden“.
Tatsächlich hatten die Dersim-Kurden Armenier gerettet und einigen von ihnen die Flucht nach Rußland ermöglicht, wofür 1938 - nebenbei noch zu Lebzeiten von Atatürk - Tausende von ihnen, Frauen und Kindern eingeschlossen, mit ihrem Leben zahlen mußten, wie beim besten deutschsprachigen Genozid-Forscher der Gegenwart, dem Schweizer Hans-Lukas Kieser, nachzulesen ist Hans-Lukas Kieser: Der verpaßte Frieden. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839.1938; Zürich 2000; S. 408 ff.. Özgönül sei aber besonders die Lektüre des amerikanischen Konsul in Kharput, Leslie A. Davis, zu empfehlen. Der hatte einen ausführlichen Bericht über die verschwundenen Armenier geschrieben und dabei genau das getan hat, was nach Herrn Özgönül die deutschen Konsuln vermissen ließen: Er hat haargenau nachrecherchiert. Zwei mal hatte er im Herbst 1915 einen nahen See inspiziert, das eine Mal mit einem amerikanischen, das andere Mal mit einem türkischen Freund.
Hier der Bericht in seiner ganzen Länge (und eigener Übersetzung), weil die Völkermordleugner immer wieder argumentieren, kein ernsthafter westlicher Beobachter habe die systematischen Tötungen armenischer Deportierter glaubwürdig belegt:
In Mollahkeuy verließen wir die Straße und überquerten die Ebene in Richtung auf den See. Wir fanden Hunderte von toten Körpern über die Ebene verteilt. Es waren fast nur Frauen und Kinder. Es war ganz eindeutig, daß sie getötet worden waren, denn so viele konnten nicht vor Hunger sterben oder an Erschöpfung. Sie lagen ziemlich in der Nähe eines kurdischen Dorfes, das als Kurdemlik bekannt war und später erfuhr ich, daß die Kurden dieses Ortes die meisten der Leute getötet hatten. Eine Frau aus Hooyloo beschrieb mir das Massaker. Sie war mit anderen Bewohnern ihres Dorfes dorthin gebracht worden und sah, wie die meisten getötet wurden. Die Kurden hatten ihr einen Hieb versetzt und hielten sie für tot. Einige Stunden lang lag sie zwischen den toten Körpern und entkam in der Nacht. Später gab ich ihr einiges Geld, mit dem sie nach Rußland fliehen konnte, wo sie heute in Sicherheit lebt. Eine andere Person, die mir etwas über diesen Ort erzählte, war eine junge Frau aus Trapezunt. Ihre Mutter und ihr Bruder waren von den Kurden getötet worden, während sie von einem von ihnen, einem Mehmed Agha, mitgenommen und in Kurdemlik für einige Monate festgehalten wurde. Schließlich gelang es ihr wegzulaufen und sie kam nach Mamuret-ul-Aziz.
Einige der Körper, die war sahen, waren verbrannt. Ich glaubte erst, daß es aus hygienischen Gründen geschehen war, obgleich Kurden selten an solche Dinge denken, ließ mir dann aber erzählen, daß die Kurden die Körper verbrannten, um an das Gold zu kommen, das diese Leute verschluckt hatten. In der Folge sah ich viele andere, die aus den gleichen Gründen verbrannt worden waren und erfuhr, daß die deportierten Armenier, wenn sie angegriffen wurden, häufig ihr Gold verschluckten, um es so zu retten.
Nachdem wir das Kurdendorf verlassen hatten, erklommen wir einen steilen Berg, um dann in ein Tal des Goeljuk-Sees hinabzusteigen, eines Sees, an welchem mein Vorgänger und die amerikanischen Missionare gewohnt waren, in jedem Sommer ein Zeltlager aufzuschlagen. Unnötig zu sagen, daß es während der drei Jahre, die ich in Kharput war, keine Gelegenheit zum Campen gab. Die toten Körper lagen am Ufer genau dort, wo unsere Leute sonst ihre Zelte aufschlugen.
Wir wendeten uns dann gen Norden und ritten etwa zwei Stunden den See entlang. Die Ufer des Sees sind zumeist hoch und steil, zwischendurch häufig tiefe Täler, wie Taschen. In den meisten dieser Täler lagen tote Körper und von der Höhe der Klippen zwischen ihnen sahen wir Hunderte von Körpern und viele Knochen in dem Wasser unter uns. Es ging das Gerücht um, daß viele der Leute, die hierher geführt wurden, von den Gendarmen die Klippen hinab gestürzt und auf diese Weise getötet worden waren. Diese Gerüchte fanden ihre volle Bestätigung durch das, was wir sahen. In einigen der Täler lagen nur wenige Körper, in anderen waren es mehr als tausend. Einer der ersten Körper, die wir sahen, war der eines alten Mannes mit einem weißen Bart, dessen Schädel mit einem großen Stein eingeschlagen worden war, der sich noch dort befand. Etwas weiter sahen wir die Asche von sechs bis acht Personen, nur wenige Knochen- und Kleiderreste waren nicht verbrannt. Ein roter Fez fiel besonders auf. Es gab auch einige Schädelknochen, weil sie die kräftigsten waren, wurden sie als letzte zerstört. Diese Asche lag etwa zwanzig Fuß von einem Baum entfernt, unter dem ein großer roter Fleck zu sehen war. Bei näherem Hinsehen erwies sich der Fleck als Blut, das dort offensichtlich seit zwei oder drei Wochen lag. Der Baum wies eine Anzahl von Einschußlöchern auf, was darauf schließen ließ, daß die Männer, deren Asche wir sahen, wahrscheinlich an ihn gestellt und erschossen worden waren.
Bald darauf kamen wir in en Tal, wo mehrere hundert tote Körper lagen. Wir waren auf sie aufmerksam geworden, bevor wir sie sehen konnten. Als wir uns dem Tal genähert hatten, sahen wir als erstes von den Klippen aus eine Reihe von zwanzig oder dreißig Köpfen, die aus dem Strand ragten. Man konnte nur die Köpfe der Körper sehen. Ihr Anblick war grauenhaft. Sie waren scheinbar begraben und ich bekam mit, daß dem wirklich so war. Aber in ihrer charakteristischen türkischen Fahrlässigkeit hatten die Gendarmen die Körper im Ufersand begraben, weil es dort mühelos war. Das Wasser wusch den Sand aus und der Wind fegte ihn weg, so daß die Köpfe hervorguckten. Es gab viele Körper, die am Fuße der Klippen an den Berg gelehnt waren, manche im Wasser, andere nicht. Als wir ins Tal kamen, sahen wir zu beiden Seiten viele direkt nebeneinander liegend. In der Mitte des Tales war eine Gruppe kleiner Bäume und Sträucher, die mit Weinblättern bedeckt waren, eine Art natürlicher Laube. Mein türkischer Begleiter führte mich dort hin und forderte mich auf, genau hinein zu sehen. Dort befanden sich fünfzehn oder zwanzig Körper unter den Bäumen. Einige saßen noch aufrecht, als ob sie gerade gestorben seien. Mein Begleiter sagte mir, das seien Leute gewesen, die krank oder verwundet waren, und dort gelassen wurden um einzugehen. Als er vor einer Woche dort vorbei gekommen sei, hätten einige noch gelebt, worauf er ihnen etwas Brot gegeben habe.
In den meisten Tälern, die wir durchquerten, guckten Köpfe aus dem Sand und lagen Körper unbeerdigt herum. Einmal war ein Körper aufgedunsen und geschwollen, die meisten begannen aber zu schrumpfen. In fast jedem Tal waren einige Körper, in manchen eine große Anzahl – in einem mindestens tausend, in einem anderen schätze ich, daß es mehr als fünfhundert waren, aber der Gestank von ihnen war so schrecklich, daß ich mich damals außerstande sah, bis zum Ende des Tales vorzudringen. Einen Monat später konnte ich es genauer untersuchen. Dieses Tal hatte, wie viele andere auch, einen dreieckigen Grundriß, und auf zwei Seiten hohe jähe Steilhänge, die im Falle eines Angriffs die Leute nicht erklimmen konnten. Zwei oder drei Gendarmen auf jeder Seite konnten eine große Menge daran hindern zu entkommen. Manche Körper lagen zwischen Felsen eingekeilt am äußersten Ende des Tales, was zeigte, daß einige von ihnen vergeblich versucht hatten die Felsen zu erklettern, um sich zu retten, und dort getötet worden waren. An der dritten Seite war das Wasser. Eine Reihe von fünfzehn oder zwanzig Gendarmen konnten die Leute daran hindern, ins Wasser zu fliehen oder über die Pfade an beiden Seiten des Sees zu entkommen. Die Leute waren also regelrecht eingepfercht und kaltblütig abgeschlachtet worden. Die Körper lagen einer über dem anderen und befanden sich dort offensichtlich seit zwei oder drei Wochen. Das wurde uns durch einen alten Kurden bestätigt, den wir in der Nähe eines kurdischen Dorfes, das oberhalb des Tales lag, bei der Arbeit fanden. Wir hielten an und fragten ihn, was denn hier stattgefunden habe. Er erzählte uns, daß die Gendarmen vor etwa zwanzig Tagen einen Troß von etwa zweitausend Armeniern gebracht und die Kurden der benachbarten Dörfer hergeholt hätten, um die Armenier zu töten. Der Termin stimmte mit dem Abmarsch eines großen Trosses von Exilierten überein, die ich drei Wochen zuvor beim Durchqueren der Stadt Mamuret-ul-Aziz gesehen hatte. Er war sehr empört über die Sache, weil, wie er sagte, der Geruch der toten Körper für ihn und die anderen Bewohner des Dorfes sehr unangenehm sei. Tatsächlich waren viele Kurden dieser Umgebung an Krankheiten gestorben, die von den sanitären Bedingungen um sie herum im Sommer und Herbst herrührten. Es ist ein Wunder, daß nicht alle gestorben sind.
Ich erfuhr in der Folge mehr über das System, mit dem diese Trosse von Armeniern erledigt worden sind. Ein oder zwei Tage wurde ihnen erlaubt, in den Tälern oder anderen entsprechenden Plätzen zu kampieren. Während dieser Zeit riefen die Gendarmen die Kurden zusammen, wie uns der alte Mann erzählte, und befahlen ihnen, die Armenier zu töten. Sie erzählten den Kurden, daß sie auf diese Weise zu Geld kommen könnten, und drohten Unannehmlichkeiten an, wenn sie sich weigerten. Es wurde ein Abkommen geschlossen, daß die Kurden den Gendarmen eine bestimmte Summe zahlten – einige hundert Pfund oder mehr, je nach den Umständen -, dafür konnten sie alle darüber hinaus gehenden Beträge behalten, die sie an den Körpern der Armenier fänden. Da ich diese Erklärung mehrere Male gehört hatte, nehme ich an, daß solch ein System in dieser Region und vielleicht in anderen Teilen der Türkei ziemlich allgemein angewendet wurde.
Eine erstaunliche Tatsache war, daß nahezu alle Körper die wir sahen, nackt waren. Ich habe gehört, daß die Leute sich völlig auszuziehen mußten, bevor sie getötet wurden, weil die Moslems Kleidung von toten Körpern als unrein ansahen. Die meisten Körper hatten klaffende Bajonettwunden, zumeist im Unterleib oder in der Brust, manchmal auch am Hals. Nur wenige Personen sind erschossen worden, weil die Kugeln zu kostbar waren. Es war billiger, mit Bajonetten oder Messern zu töten. Eine andere bemerkenswerte Tatsache war, daß fast alle Frauen flach auf dem Rücken lagen und Zeichen furchtbarer Verstümmelungen mit dem Bajonett aufwiesen. Diese Wunden sind ihnen vermutlich in vielen Fällen beigefügt worden, nachdem sie tot waren.
Nachdem wir den See verlassen hatten, überquerten wir die Berge und nahmen einen schmalen Pfad, der uns zum Dorf Keghvenk führte. Am ganzen Weg lagen tote Körper. Manche lagen direkt auf dem Pfad, so daß die Pferde gezwungen waren, über sie hinweg zu steigen. Dies war der Weg, über den normalerweise die Post nach Kharput kam, aber er wurde nur selten von anderen als Türken benutzt. An einer Stelle in den Bergen zeigte mein Kompagnon auf ein Tal neben dem Pfad und sagte, daß sehr viele Armenier in diesem Tal getötet worden seien, nur ein paar hundert Fuß von der Stelle entfernt, wo wir uns jetzt befanden. Wir konnten die toten Körper riechen, aber es war spät geworden und wir hatten schon so viele gesehen, daß wir nicht mal mehr diese kurze Strecke vom Weg abweichen wollten, um noch mehr zu sehen. Ich besuchte den Platz eineinhalb Jahre später und fand die Knochen von Hunderten von Leuten in diesem Tal. Auf den Feldern zwischen den Bergen und dem Dorf Keghvenk sahen wir, daß hier Tausende von Leuten getötet worden waren. Die meisten von ihnen waren in flachen Gräbern begraben, aber wir sahen viele ihrer Knochen. Dies war nur etwa zehn Meilen von der Stadt Mamuret-ul-Aziz entfernt, aber es war wohl eines der schlimmsten Schlachtstätten der ganzen Gegend. Mir wurde erzählt, daß viele der Männer aus Mamuret-ul-Aziz und Kharput sowie von den benachbarten Dörfern, die noch vor dem Beginn der regulären Deportationen festgenommen und ins Gefängnis geworfen worden waren, genau hierher geführt und getötet wurden. Es gab noch Spuren von großen Lagern rund um Keghvenk, wo Trosse von Exilierten während des Sommers kampierten. Viele von ihnen waren auf diesen Feldern getötet worden. Wir kehrten gegen neun Uhr am Abend nach Hause zurück und ich wußte nun, was die „Deportation“ der Armenier wirklich bedeutete. Ich wußte nun auch, daß ich nicht falsch lag, wenn ich in einigen meiner Berichte von Mamuret-ul-Aziz als dem „Schlachthaus-Vilajet“ der Türkei gesprochen hatte.
Es fällt auf, daß Autor Özgönül in seinem Buch immer von „der“ türkischen Historiographie spricht, von einer monolithisch-nationalen Geschichtsschreibung, wie sie eigentlich typisch für den Kommunismus war und heute nur noch für autoritäre Regime ist. Aber diese einzigartige „türkische Historiographie“ muß es in der Tat geben. Und sie hat eine Reizwort: Ermeni.
In den deutschen Dokumenten gibt es eine Beschreibung über eine Reise des deutschen Vizekonsuls Walter Holstein von seinem Dienstsitz Mossul nach Aleppo. „An der ganzen Strecke südlich Nisibin“, heißt es darin, „sah er alle Muhamedaner mit krummen Schwertern herumlaufen. ‚Ermen’ war ihr einziger Gedanke.“ Das gilt auch für Cem Özgönül vor. Er rennt mit einem publizistischen Schwert namens „Ermeni“ herum, bereit auf jeden einzuschlagen, der irgend etwas mit Armeniern zu tun hat. Dem Autor ist diese Zwanghaftigkeit wohl auch bewußt, denn er beschreibt sie in seinem Buch in Form einer Fußnote, als er den Journalisten Henryk M. Broder zitiert, der einen Armenier über gebildete, kluge, aufgeklärte Türken sprechen läßt mit der Einschränkung: „Nur wenn die Rede auf die Armenier kommt, hören die Freundlichkeiten sofort auf, wobei es keine Rolle spielt, ob es Rechte oder Linke, Konservative oder Liberale sind.“
Und das erklärt denn auch, warum Autor Özgönül glaubt, im bekennenden Armenierfreund Johannes Lepsius ein gefundenes Fressen gefunden zu haben. Lepsius hat in der deutschen Orient-Politik eine Rolle gespielt oder vielmehr zu spielen versucht, aber nur eine untergeordnete. An dem Politiker Lepsius eine Kontroverse über die Ursachen des Völkermords aufzuhängen, ist ein Scheingefecht. Lepsius hat auch nicht alle Historiker der Welt mit seinen Dokumenten beeinflußt - was schon gar nicht möglich ist, weil sie nicht ins Englische übersetzt wurden -, er hat nur sehr früh erkannt, daß in der Türkei 1915/16 ein Völkermord stattgefunden hat, und er hat das sehr detailreich hauptsächlich für das deutschsprachige Publikum beschrieben. Er war der mit Abstand wichtigste Alliierte der Armenier in einem Deutschland, das in den Armeniern in erster Linie nur Staatsfeinde sah - wie besonders die von Özgönül so hofierten deutschen türkophilen Offiziere es taten, die – ganz nebenbei – die Deportationen der Armeniern nicht nur als Völkermord hinstellten, sondern ihn auch ausdrücklich guthießen.
Es ist natürlich auch den Genozidleugnern klar, daß Illoyalität und selbst ein Aufstand in Van kein Grund ist, ein ganzes Volk zu vernichten. Also drücken sie sich um die Kernfrage, was wirklich mit den Armeniern passiert ist und ob ihre Vernichtung gewollt war. Und auch über die deutsche Rolle beim Völkermord erfährt der Leser vom Genozid.Vernebler Özgönül kaum etwas, was ja auch gefährlich wäre, denn die führenden deutschen Politiker haben die Vernichtung der Armenier wenn nicht gewünscht, so doch billigend in Kauf genommen. Die im Untertitel des Buches groß angekündigte „kritische Betrachtung der deutschen Rolle in Geschichte und Gegenwart“ fand nicht statt - sie war wohl nur ein Werbegag.
Das Buch von Özgönül ist geradezu ein Beweis, daß die türkische Aufarbeitung der armenischen Vergangenheit kaum begonnen hat oder durch gemeinsame Konferenzen mit handverlesenen Armeniern gleich wieder verschüttet werden soll. Die vom Autor gegebene Erklärung, „dass die meisten Türken völlig unabhängig von ihrer politischen Gesinnung von der türkischen Historiographie schlicht und ergreifend überzeugt sind“, ist schlicht und ergreifend nichtsagend, weil in der Türkei schon die Erwähnung des Themas Völkermord an den Armeniern strafrechtlich verfolgt werden konnte, auch wenn einige Bücher von Dissidenten unterm Ladentisch gehandelt wurden.
Ein Lob muß ich dem Autor zollen: er hat Dokumente gelesen, wahrscheinlich sogar sehr viele. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit für jeden sein, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, doch für die meisten Türken ist es das keineswegs. Die Internet-Foren strotzen nur so von Teilnehmern, die sich mit unglaublichen Kommentaren und auf für die Opfer beleidigenste Art zum Thema äußern, ohne je ein ernsthaftes Buch oder eine Studie darüber gelesen haben. Ich habe in meinem ganzen beruflichen Leben noch nie erlebt, daß so viele Diskutanten über ein Thema sprechen, ohne die geringsten Kenntnisse zu haben. Wenn Cem Özgönüls Buch erreicht, daß einige wenigstens seine Aussagen nachprüfen, dann hätte er einen wertvollen Beitrag geleistet.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Satz des deutschen Grundgesetzes, „sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieses Grundgesetz gilt für die deutschen Staatsbürger, folglich auch für die türkisch-deutschen. Für Herrn Özgönül steht aber nicht die Würde des Menschen obenan, sondern des (türkischen) Staates, die von den (türkischen und deutschen wie auch den armenischen) Bürgern zu achten und zu schützen ist - denn sein letzter Satz lautet: „In der bestehenden Form haben wir es mit einem Mythos eines Völkermords zu tun, der zugleich einen Rufmord an der Würde einer ganzen Nation darstellt.“ Würden in Deutschland türkische Strafrechtsparagraphen gelten, drohte Herrn Özgönül wegen Verunglimpfung Deutschlands ein Prozeß. Gottlob gibt es diese Paragraphen hier nicht und jeder kann seine Meinung frei äußern.
Es ist unschwer vorherzusagen, welchen Zweck das Buch von Cem Özgönül erfüllen soll. Innerhalb der „türkischen Historiographie“ wird es künftig heißen, der Autor habe nachgewiesen, daß die deutschen Dokumente Fälschungen seien und damit nichts wert.
Die türkischen Intellektuellen haben es in der Hand, sich weiter durch „Vordenker“ wie Özgönül manipulieren zu lassen oder sich selbst ein unabhängiges Urteil zu bilden. Ihnen stehen immer mehr nachprüfbare Dokumente und Berichte zur Verfügung, die fast alle wichtigen Ereignisse im Zusammenhang mit den Armeniern beleuchten. Die zu lesen ist viel Arbeit, bringt aber auch viele Erkenntnisse - freilich auch schmerzliche wie die, daß die internationale Genozid-Forschung schon seit einiger Zeit über die „türkische Historiographie“ in Sachen Armenier schlicht und ergreifend hinweggegangen ist.
[Eine verkürzte Ausgabe dieser Kritik erschien in der "Armenisch-Deutschen Korrespondenz" Nr. 131/132, Jg. 2006/Heft 3&4]
Ein Mythos von Wissenschaftlichkeit - die Arbeitsweise des Cem Özgönül
Özgönül schreibt mit Recht, daß ein Teil der Dokumente zugunsten der Armenier manipuliert worden sei. Völlig zu Unrecht aber behauptet er, diese Manipulationen seien erstmals von ihm herausgearbeitet worden. Der geneigte Leser kann im Folgenden selbst nachprüfen, was an diesen Behauptung von Özgönül stimmt.
Dazu einige technische Vorbewerkungen: Ich habe in den Dokumente die Originalstellen kursiv und blau herausgestellt, die Formulierungen in den von Lepsius herausgegebenen Akten stehen in eckigen Klammern. Um die manipulierten Texte von den Originaltexten zu unterscheiden, habe ich dem Dokumentenamen ein „V“ für „Veränderungen“ (in den englischen Versionen ein „M“ für „manipulations“) angefügt. Durchgehend habe ich mich auf jene Änderungen beschränkt, die den Sinn der entsprechenden Passage verändern, unwichtige Änderungen wie Interpunktionen oder Schreibweisen, in Lepsius gern korrigiert hat, hingegen so gelassen, wie sie sich in den 1919 herausgegebenen Akten befinden, um den an den bedeutungsvollen Veränderungen interessierten Leser nicht mit unwichtigen Markierungen zu verwirren. Wen nur der Originaltexte interessieren, findet sie in der Rubrik „Dokumentation“ nach Editionen oder chronologisch angeordnet - sowie eine Auswahl davon in meinem Buch „Der Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts; zu Klampen-Verlag, Springe, 2005.
Aus Unkenntnis oder um Nachforschungen zu erschweren, hat Özgönül sich nicht an die üblichen Quellenangaben gehalten. Nach denen wird jeder Registerband mit einer neuerdings vom Politischen Archiv festgelegten Nummer (mit dem Zusatz „R“ für „Reich“) bezeichnet - die frühere Bezeichnung war z.B. Türkei/183 für die als „armenische Angelegenheiten“ bezeichneten Akten plus Bandnummer. Ferner ist auf jedem Aktenvorgang die Nummer der Eintragung ins Berliner Zentralregister verzeichnet, die jedes Jahr neu beginnt. Gerade um den Jahreswechsel wird dieser Zentralregisternummer manchmal das Jahr (hochgestellt) angefügt, denn es kommt vor, daß ein Schriftstück vom Jahresende erst im folgenden Jahr Berlin erreichte und dann erst registriert werden konnte. Dieser Ziffer ist im Fall des Völkermords an den Armeniern in der Regel ein „A“ vorangestellt (A steht für „politische Angelegenheiten“). Im Buch habe ich ferner das Praesentatsdatum (pr.) angegeben, an dem die Akte registriert worden ist. Schon mit Registerband-Nummer, Jahr und Zentralregistereintrag ist jede Akte der R-Bände eindeutig und schnell herauszufinden, das pr-Datum gibt im Zweifel weitere Hinweise. In den Akten der Botschaft Konstantinopel, deren Registrierung nicht verändert worden ist, entspricht der A-Nummer eine vierstellig Ziffer, die nach Eintrag ins Botschaftsregister durchgestrichen worden ist. Eine weitere Unterscheidung in A53a sowie 10/12 teilt die Botschaftsakten auf.
Auf unserer Internet-Seite armenocide haben wir uns für einen Dokumentennamen entschieden, der rein chronologisch angeordnet ist (Jahr-Monat-Tag), sodann das internationale Landeskürzel enthält (DE für Deutschland) und eine freie Ziffer, um Dokumente mit dem gleichen Erstelldatum zu unterscheiden. Die Verbindung zu der Registrierung des Auswärtigen Amts ist in armenocide in der Rubrik „Listen“ hergestellt worden, getrennt nach Berliner Zentraljournal und Konstantinopler Botschaftsjournal. Allein die Kenntnis der A-Nummer plus Jahr genügt bereits, um ein AA-Dokument eindeutig zu identifizieren. Sodann kann der Leser den Text des Originaldokuments nachlesen oder sich die Manipulationen (unter der Rubrik „Revidierte Lepsius-Edition“) heraussuchen und einsehen. Özgönül hat sich als einzige Quellenangabe die Nummer der Mikrofiches ausgedacht, die aber nur jene nachprüfen könne, die über einen Filmsatz der deutschen Akten verfügen. Auf Mikrofiches verfilmt ist aber nur ein geringer Teil der deutschen AA-Akten. Özgönül gibt auch nur die Filmnummer der Mikrofiches (MF) an, auf denen sich bis zu 98 Seiten befinden können, nicht hingegen die einzelnen Aufnahmen. Mit anderen Worten: Selbst die wenigen Spezialisten, die über den Mikrofiche-Filmsatz des Auswärtigen Amts verfügen, müssen an die hundert Seiten durchsehen, um Özgönüls Quelle zu finden. Wie unsinnig als einzige Angabe die Filmnummern sind, zeigt sich an den von Briten und Amerikanern verfilmten Akten des Auswärtigen Amts. Die befinden sich auf 35-mm-Filmrollen, die jeweils bis zu 1200 Aufnahmen enthalten. Um den wenigen Besitzern der Mikrofiche-Verfilmung die Nachprüfung zu ermöglichen, habe ich den MF-Ziffern die Seitennummer zugefügt, wobei ich die Seiten von 1 bis 98 durchnumeriert habe.
Nachfolgend werden alle von Özgönül angegebenen Textstellen der Manipulationen zugunsten der Armenier nach der Seitenzahl in seinem Buch angegeben. In eckigen Klammern befinden sich die Mikrofiche-Nummer inklusive der bei Özgönül fehlenden Seitenzahlen.
Seite 116. Özgönül zitiert aus einem Bericht von Konsul Büge zwei Stellen [MF 7244; S. 43-53]. In der Originalversion heißt es:
Özgönül zitiert aus einem Telegramm des Vize-Konsuls Kuckhoff vom 4. Juli 1915 folgende Passage, in der er die in der Lepsius-Version ausgesparten Passagen fettet:
Anmerkung 1: Özgönül irrt sich im Datum. Der Originalbericht von Kuckoff [MF 7123; S. 14-20] ist vom 27. Juni 1915 und befindet sich bei uns mit Veränderungen in 1915-06-27-DE-011-V. Der von Özgönül angegebene Bericht entspricht unserem Dokument 1915-07-16-DE-003-V/Anlage.
S. 123
Auf dieser Seite zitiert Özgönüls eine Passage aus dem Originaldokument und fettet den von Lepsius ausgelassenen Satz.
Alle von Özgönül angegebenen Veränderungen finden sich auch in unseren Dokumenten. In Dok. 1915-06-27-DE-011-V heißt es bei uns:
"Wegen allgemeiner Verschwörung und Verrat wie Verwüstung einiger Städte Anatoliens und Tötung von deren muselmanischer Bevölkerung verhängte Regierung Ausweisung des gesamten armenischen Volkes nach Mesopotamien mit fünftägiger Frist zur Regelung ihrer Ortsangelegenheiten. ... Falls Regierungsmaßregel voll ausgeführt wird sind Repressalien seitens der mit den Verschwörern verbundenen Kriegsfeinde durch Zerstörung aller Küstenstädte zu erwarten."
Der ausschlaggebende Grund für diese Maßregel soll die Einnahme der Stadt Wan seitens der Armenier und die Erklärung der Unabhängigkeit dortselbst, sowie die Zerstörung von Schabin-Karahissar (Wilajet Sivas) gewesen sein. Angeblich haben an beiden Orten die Aufständischen die ganze muselmanische Bevölkerung umgebracht. In Karahissar auch den griechischen Bischof, der türkische Familien in seinem Hause retten wollte.
Es ist Tatsache, daß eine große armenische Verschwörung in ganz Anatolien vorzüglich organisiert war und mit dem Auslande in ständiger Verbindung stand. In allen Städten waren die Verschwörer mit Kriegswaffen, Munition und Bomben gut versorgt. Vieles wurde von den Behörden entdeckt; das meiste dürfte jedoch versteckt geblieben sein. Die Regierung hatte somit alle Ursache, diesem gefährlichen revolutionären Treiben ein Ende zu bereiten.
Alle von Özgönül angegebenen Veränderungen waren also bereits von uns herausgestellt worden. Die Buch-Passagen beweisen aber auch, daß Özgönül sich nicht nur unserer Vorarbeiten bedient, sondern schlicht den Internet-Text heruntergeladen hat, ohne das Original zu Rate zu ziehen. Denn Lepsius schrieb als Anrede „Euere Excellenz“, was wir in den V-Dokumenten stehen ließen, weil diese Änderung den Sinn nicht verfälscht. Im Originaltext aber hieß es „Euerer Exzellenz“, wie es dann auch in unseren Originaltexten und in meinem Buch korrekt wiedergegeben ist.
Özgönül moniert, daß Ehmann in einem Telegramm vom 5. Mai 1915 von „durchaus gerechtfertigten Maßnahmen der Regierung“ gesprochen habe.
So steht es auch in unserem Dok 1915-05-05-DE-011-V (Absatz 3):
Özgönül zitiert aus einem Telegramm von Ehmann vom 18. Juni und fettet:
Özgönül zitiert aus dem Dok 1918-03-19-DE-001-V eine von Lepsius nicht veränderte Passage
Özgönül zitiert eine in der Lepsius-Edition nicht veröffentlichte Passage der Aufzeichnung des Auswärtigen Amts für einen Redeentwurf:
Den ersten Fehler haben wir beim Korrekturlesen der Originaldokumente gemerkt und im Text des Originaldokuments geändert (allerdings im V-Dokument vergessen), den zweiten haben wir übersehen, weshalb er auch inmeinem Buch falsch steht. Özgönül hat beide Fehler aus dem V-Dokument schlicht heruntergeladen - also den Text keineswegs mit dem Original auf seinen Filmen verglichen, obgleich er die Filme ja immer als Quelle angibt. Und er hat nicht einmal den Text mit unseren Originaltexten (die er ja auch herunterladen konnte) verglichen, sonst hätte er „Entwickelung“ geschrieben und nicht „Entwicklung“.
S. 126:
Özgönül beschreibt, daß Lepsius in der gleichen Aufzeichnung den Satz „wegen der Frage der Behandlung der Armenier“ in „wegen der Behandlung der Frage der Armenier“ geändert habe.
Im 3. Absatz des Dok. 1918-03-19-DE-001-V steht bei uns:
Özgönül zitiert die Lepsius-Version der Aufzeichnung:
Özgönül zitiert die Lepsius-Version und fettet die Veränderung:
S. 129:
Özgönül zitiert die nächsten Sätze des gleichen Dokuments und fettet die bei Lepsius ausgelassene Passage:
Özgönül fährt weiter im gleichen Bericht fort, ohne ein Wort auszulassen, erweckt durch die Einfügung von [...] aber den Eindruck, als ob er ganz andere Stellen herausgefunden hat. Er zitiert aus der Lepsius-Edition und fettet ein zugefügtes Wort:
Zwar schreibt Özgönül „ Folgender Absatz ...“, doch in Wahrheit geht es im Text schlicht weiter im gleichen Dokument: Er zitiert die Lepsius-Ausgabe und fettet ein verändertes Wort:
Özgönül fährt im Dokument fort, indem er den Satz „Der baldige Erlaß einer Amnestie ist zugesagt worden“ an den Anfang stellt. Dann folgt wieder einmal (fast) wortidentisch mit unseren Arbeiten die Passage:
Im gesamten Dokument 1918-03-19-DE-001 [MF 7171; S. 50-62] hat Özgönül zwar, wie schon zuvor, nicht eine einzige Manipulation über die Armenier entdeckt, die wir nicht bereits herausgearbeitet hatten, aber einige Veränderungen übersehen oder übersehen wollen.
Özgönül zitiert aus der Denkschrift Scheubner-Richters [MF 7129, S. 13-21], und schreibt: „die von mir fett formatierten Passagen sind von Lepsius in der Aktenedition gestrichen worden“. Alle von ihm fett gedruckten Stellen waren von uns bereits in Dok. 1915-08-10-DE-001-V als gestrichene Passagen kursiv und blau gekennzeichnet.
Hier die lange fragliche Textstelle bei Özgönül.
Wir haben dieser Tätigkeit bis jetzt leider wenig entgegenarbeiten können. Das junge deutsche Konsulat in Erserum konnte seinen Einfluss naturgemäss noch nicht weit erstrecken, soviel mir bekannt, standen ihm auch keinerlei Mittel für Propaganda-Zwecke zur Verfügung. Die wenigen Konsuln, die das Deutsche Reich in diesen Teil der Türkei entsandt hat, reichen für ein so grosses Arbeitsfeld, besonders, was ihre politische Tätigkeit anbetrifft, und eine solche kommt hier hauptsächlich in Betracht, bei weitem nicht aus. Dazu wollte es das Unglück, dass der hiesige wichtige Posten durch die Gefangennahme des die Verhältnisse gut kennenden und politisch sehr versierten Konsul Anders zu Beginn des Krieges unbesetzt war.
[...] Alle diese Umstände und die Unkenntnis Deutschlands und seiner Stärke haben es wohl mit sich gebracht, dass die Armenier an einen Sieg Russlands und seiner Verbündeten glaubten und alles Heil von dort erwarteten. Die deutschen Siege zu Beginn des Feldzuges und die russischen schweren Niederlagen fanden keinen Glauben, da sie ihnen durch Vermittlung der Türken mitgeteilt wurden. Das Vorrücken der Russen im Kaukasus galt ihnen als Zeichen russischer Ueberlegenheit. Erst im Dezember, als der hiesige Posten neu besetzt wurde, konnte die deutsche Aufklärungsarbeit beginnen, und-, glaube ich, dass die ruhige Haltung der Armenier hier ein Erfolg derselben war. Es ist leider nicht möglich gewesen, diese Aufklärungsarbeit auch in entferntere Gebiete - nach Wan u.s.w. - hinüberzutragen. Die Anfänge meiner Tätigkeit in diesem Sinne wurden durch die Ereignisse überholt. Auf Grund meiner Erfahrungen hier muss ich annehmen, dass es möglich gewesen wäre, durch eine ausgedehnte, rechtzeitige und zweckmässige Aufklärungsarbeit die Armenier vor unüberlegten Schritten abzuhalten und ihnen klar zu machen, dass ihr Wohl und ihre Zukunft allein in einer durch die Verbindung mit Deutschland starken und aufblühenden Türkei zu suchen sei.
Ich bin der Ansicht, dass jetzt die grosse Mehrzahl von der Unsinnigkeit eines Arbeitens für russische Interessen überzeugt ist und Russland, das sie so oft und auch jetzt betrog, verwünscht. Ich glaube ferner, dass, wenn es unserem Einfluss in der Türkei gelingen sollte, das armenische Volk von der Vernichtung zu bewahren, wir bei dem grösseren Teil desselben Dankbarkeit und wertvolle Mitarbeit bei der Erschliessung Anatoliens finden werden.
Andererseits würde durch eine bleibende Aussiedlung der Armenier aus Anatolien dieses Land seiner wertvollsten Arbeitskräfte beraubt sein. Die an Zahl geringere türkische Bevölkerung, durch den Kriegsdienst dezimiert, kann keinen Ersatz dafür bieten. Bis die Kurden zur Arbeit erzogen, dürften noch Jahrzehnte vergehen. Ich glaube auch, dass das bildungsgierige armenische Volk durch deutsche Schulen in kurzer Zeit für uns gewonnen werden könnte. Zum Beweis führe ich an, dass, als hier eine deutsche Schule eröffnet werden sollte, 90 % der sich meldenden Schüler Armenier waren.
(...) Gleich wie das Problem "Polen" in Europa ist hier im Kleinen das Problem der auf russischem, türkischen und persischem Gebiet lebenden Armenier ein schwieriges. Als günstigste Lösung hätte ich es angesehen, wenn es den Türken mit Unterstützung auch der russischen Armenier gelungen wäre, die von Armeniern bewohnten Grenzgebiete zu erobern und so die unter russischer wie türkischer Oberhoheit stehenden Teile Armeniens, dessen Mittelpunkt Etschmiasin bilden könnte, zu einem Ganzen zu vereinen. Bei Gewährung einer gewissen Selbstverwaltung hätte sich das armenische Volk unter gerechter türkischer Regierung wohl fühlen und sich seine kulturelle Eigenart, was ihm in Russland nicht möglich, bewahren können. Eine solche Lösung war auch das Ideal einer Gruppe einsichtsvoller armenischer Politiker. Die politische Kurzsichtigkeit sowohl der türkischen Regierung wie der Führer der Daschnakzagan-Partei haben diese Lösung unmöglich gemacht, ja in das Gegenteil verwandelt. Ob jetzt noch die Anbahnung einer Verständigung zwischen den beiderseitigen Komiteeführern möglich, lasse ich dahin gestellt. Die Schwierigkeit schient mir dabei mehr auf türkischer, als auf armenischer Seite zu liegen.
Alle diese Umstände und die Unkenntnis Deutschlands und seiner Stärke haben es wohl mit sich gebracht, dass die Armenier an einen Sieg Russlands und seiner Verbündeten glaubten und alles Heil von dort erwarteten. Die deutschen Siege zu Beginn des Feldzuges und die russischen schweren Niederlagen fanden keinen Glauben, da sie ihnen durch Vermittlung der Türken mitgeteilt wurden. Das Vorrücken der Russen im Kaukasus galt ihnen als Zeichen russischer Ueberlegenheit. Erst im Dezember, als der hiesige Posten neu besetzt wurde, konnte die deutsche Aufklärungsarbeit beginnen, und-, glaube ich, dass die ruhige Haltung der Armenier hier ein Erfolg derselben war. Es ist leider nicht möglich gewesen, diese Aufklärungsarbeit auch in entferntere Gebiete - nach Wan u.s.w. - hinüberzutragen. Die Anfänge meiner Tätigkeit in diesem Sinne wurden durch die Ereignisse überholt. Auf Grund meiner Erfahrungen hier muss ich annehmen, dass es möglich gewesen wäre, durch eine ausgedehnte, rechtzeitige und zweckmässige Aufklärungsarbeit die Armenier vor unüberlegten Schritten abzuhalten und ihnen klar zu machen, dass ihr Wohl und ihre Zukunft allein in einer durch die Verbindung mit Deutschland starken und aufblühenden Türkei zu suchen sei.
Alle Manipulationen waren also bereits von uns aufgedeckt worden. Aber es gibt noch einige pikante Details: Auf S. 139 macht Özgönül durch drei Punkte - sehr korrekt - auf eine Auslassung aufmerksam. Interessant ist, was u.a. in dieser Auslassung über die Armenier steht, nämlich der Satz: „Denn gerade die Liebe zu ihrer Heimat, zu der von ihnen seit Jahrhunderten bewohnten armenischen Hochebene, bildet einen Grundzug ihres Charakters, und wohl mit der sympathischste.“ Cem Özgönül, der Lepsius nachweisen will, daß der die Dokumente manipuliert, um Schlechtes über die Armenier aus den Dokumenten zu entfernen, entfernt aus dem gleichen Dokument Gutes über die Armenier, manipuliert also selbst aus der gleichen Fälschungsabsicht, die er Lepsius vorwirft.
Erneut hat Özgönül die Passagen aus unserem V-Dokument schlicht heruntergeladen und keineswegs in seinen Filmoriginalen nachgesehen. Denn in den Lepsius-Dokumenten werden Worte wie „Rußland“, „daß“ oder „veranlaßten“ mit „ß“ geschrieben, im Original hingegen mit „ss“. Auch steht in den Lepsius-Dokumenten „Armenierfrage“ und nicht wie im Original „Armenier-Frage“ sowie „utopisch politischer Natur“ statt „utopisch-politischer“ Natur. Özgönül übernahm wieder alle Lepsius-Fehler. Aber dann korrigierte er zwei Fehler von uns. Wir hatten im oben genannten V-Dokument „schient“ statt „scheint“ geschrieben und nach -„türkischer“ einen Punkt gemacht statt eines Kommas. Beide Fehler hat Özgönül gemerkt und korrigiert - genau wie einst Lepsius, der Schreib- und Interpunktionsfehler in den Kopien, mit denen er ausschließlich gearbeitet hat, ebenfalls korrigierte. Diese beiden Fehler wie auch zwei Interpunktionsfehler (die Özgönül prompt mit herunterlud) hatten wir im Originaltext (also dem Dokumente 1915-08-10-DE-001 ohne „V“) schon früh gefunden und korrigiert und damit den Text richtig wiedergegeben. Nur hatte ich vergessen, diese Fehler auch in den manipulierten Dokumenten zu korrigieren, was erst jetzt geschehen ist.
Özgönül zitiert aus einem Bericht [MF 7110, S. 76-79] des deutschen Konsul Anders und fettet die Abweichungen:
Der Bischof sprach mir zum Schluss noch sein Bedauern aus, daß ein in Rußland erscheinendes Blatt, der "Mschak" mich kürzlich als Türkenfreund angegriffen habe. Nach Ansicht des Bischofs seien die Armenier jetzt völlig ausgesöhnt und fühlen sich als treue Ottomanen. Die Schlußfolgerungen des genannten Blattes, daß ein Türkenfreund eo ipso Armenierfeind sein müsse, sei daher vollkommen falsch. Übrigens schöpfe der "Mschak" seine Nachrichten nicht aus armenischen, sondern aus russischen Quellen. Die hiesigen Armenier seien sich wohl bewußt, daß die Kaiserliche Regierung mit Wohlwollen und Interesse ihr Schicksal verfolge und seien mir dankbar, daß ich dies bei verschiedenen Anlässen zum Ausdruck gebracht hatte.
Der Bischof sprach mir zum Schluss noch sein Bedauern aus, daß ein in Rußland erscheinendes Blatt, der "Mschak" mich kürzlich als Türkenfreund angegriffen habe. Nach Ansicht des Bischofs seien die Armenier jetzt völlig ausgesöhnt und fühlen sich als treue Ottomanen. Die Schlußfolgerungen des genannten Blattes, daß ein Türkenfreund eo ipso Armenierfeind sein müsse, sei daher vollkommen falsch. Übrigens schöpfe der "Mschak" seine Nachrichten nicht aus armenischen, sondern aus russischen Quellen. Die hiesigen Armenier seien sich wohl [voll] bewußt, daß die Kaiserliche Regierung mit Wohlwollen und Interesse ihr Schicksal verfolge und seien mir dankbar, daß ich dies bei verschiedenen Anlässen zum Ausdruck gebracht hatte.
Özgönül zitiert aus einem Bericht Wangenheims [MF 7118, S. 38-44] vom 15. April 1914:
Hier haben Özgönül und/oder seine Helfer endlich einmal gehörig arbeiten müssen, sind aber ihren Plagiat-Gewohnheiten treu geblieben. Denn das dazugehörende deutsche Dokument 1916-10-04-DE-002 war ganz früher auf meiner Homepage, ist dann aus irgendeinem Grund nicht in die Aufstellung der deutschen Dokumente in armenocide übernommen worden. Es steht aber als 1916-10-04-DE-002-M im englischsprachigen Teil mit allen von Özgönül angegebenen Manipulationen.
Hier der Bericht des deutschen Geschäftsführers in Konstantinopel (und nicht Botschafters, wie Özgönül schreibt) Radowitz vom 4. Oktober 1916 [MF 7154, S. 61-64, 74-78] mit den von Özgönül vorgenommenen Fettungen, die auf Abweichungen von der Lepsius-Ausgabe hinweisen:
Özgönül zitiert aus der Anlage eines Briefes des Missionsdirektors Schreiber [MF 7167, S. 28-31] zwei Passagen:
Wird das Volk der Reformation die gänzliche Vernichtung einer christl. Nation durch eine degenerierte, minderwertige Rasse als gegebene Tatsache hinnehmen? [15. Absatz]
Wird das Volk der Reformation die gänzliche Vernichtung einer christl. Nation als gegebene Tatsache hinnehmen? [15. Absatz]
Wird das Volk der Reformation die gänzliche Vernichtung einer christl. Nation durch eine degenerierte, minderwertige Rasse als gegebene Tatsache hinnehmen?
Hier erhebt Özgönül den Vorwurf der Manipulation in der Sternchen-Fußnote. Im Lepsius-Dokument sei aus einem Bericht Stanges [MF 7254, S. 27-35] der letzte Satz herausgelassen worden.
Özgönül schreibt, daß Lepsius „den Namen Tahsin aus der Stangeschen Aufzählung der Verantwortlichen“ seiner Dokumentation gestrichen habe.
Dazu unser oben schon genannt Dokument 1915-08-23-DE-013-V, Schlußabsatz plus Absatz davor:
Hilmi Bey, Schakir Bey, der Abgeordnete für Erzerum, Seyfulla Bey; außerdem hier im Amt: der Wali Tachsin Bey, der Polizeidirektor Chulussi Bey und endlich, der in der Ausführung der Maßnahmen nebst dem Polizeidirektor sich am rohesten erwiesen hat, [der Oberkommandierende] Mahmud Kamil Pascha.
Özgönül zitiert eine weitere Passage aus dem gleichen Dokument und fettet die von Lepsius ausgelassenen Stellen:
Özgönül vergleicht Originalpassagen eines Briefes von Lepsius an das Auswärtige Amt [MF 7144, S. 8-12] mit den Manipulationen in der Edition von 1919.
Die russischen Armenier waren vor dem Kriege der Einverleibung der von Rußland okkupierten armenischen Gebiete in Rußland abgeneigt und wünschten unter entsprechenden Sicherheiten für den Fortbestand ihrer Nation die Erhaltung der Souveränität des Sultans
Anmerkung: Özgönül hat nun erstmals eine Passage mit Änderungen entdeckt, die wir nicht kenntlich gemacht haben, sei es, weil wir sie übersehen haben, sei es, weil wir sie für zu unwichtig hielten, denn sie verändert den Text nur ganz unwesentlich. Auch haben diese Veränderungen nichts mehr mit den Armeniern im allgemeinen zu tun, sondern es geht um einige wenige Armenierinnen (die Männer waren alle schon deportiert oder umgebracht), die sich noch im deutschen Konsulat befanden.
Özgönül stellt die Originalpassage des Berichts [MF 7140, S. 3-6] des Konsulatssekretärs (und nicht Konsuls, wie Özgönül schreibt) Carl Werth (aus Anlage 2) den Lepsiusdokumenten gegenüber. Originalpassage:
Euere Exzellenz bitte ich gehorsamst, dringende Schritte zu unternehmen, damit unsere Schützlinge hier verbleiben können.
Selbst von den ausgewanderten reichen und wohlhabenden Familien sind unterwegs viele durch die Kälte zugrunde gegangen.
Ich bitte um Drahtweisung, welche Stellungnahme Sie in dieser Angelegenheit genommen haben und wie ich mich zu den hiesigen Behörden verhalten soll. Müssen die Armenier auswandern, so ist es sicher, daß alle umkommen werden, sei es durch Erfrieren, sei es durch die wilde und rachsüchtige Bevölkerung oder verhungernde Soldaten.
Bitte gehorsamst dringend dort Schritte zu unternehmen, damit unsere Schützlinge hier verbleiben können.
Selbst von den reichen und wohlhabenden Familien sind unterwegs viele vor Kälte erfroren und gestorben.
Bitte mir umgehend zu drahten, welche Stellungnahme Sie in dieser Angelegenheit genommen haben und wie ich mich zu den hiesigen Behörden verhalten soll. Müssen sie trotzdem auswandern, so ist es sicher, daß keiner von ihnen am Leben bleibt, sei es durch Erfrieren, sei es durch die wilde und rachsüchtige Bevölkerung oder verhungernde Soldaten.
Für unsere Schützlinge werden durch die Militärbehörden Wagen verschafft und sollen ihnen auch Gendarmen zur Bewachung auf den Weg gegeben werden.
Aus einem Bericht des deutschen Journalisten Tyszka [MF 7130, S. 26-41] fischte Özgönül einen Satz heraus, der in den Lepsius-Dokumenten verändert war. Das Original:
Der Hauptteil seines Buches - „eine kritische Betrachtung der Lepsiusdokumente“, wie er ihn im Buchuntertitel selbst nennt - basiert folglich eindeutig auf unseren bereits im Jahr 1998 aufgedeckten und damals auf der homepage Wolfgang Gust veröffentlichten bzw. auf den seit 2000 in diesem Internet-Portal publizierenten Veränderungen der von Lepsius herausgegebenen Dokumente. Cem Özgönül hat sich des Plagiats schuldig gemacht - für einen Autor, der sich „als wissenschaftlich arbeitender Mensch“ (S. 307) bezeichnet und diese angebliche Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit immer wieder herausstellt, sicherlich eine schwere Hypothek.